Aalener Nachrichten

„Am Ende sind wir alle Menschen“

Der Antisemiti­smusbeauft­ragte Michael Blume erhebt beim Montagsfor­um in Ravensburg seine Stimme gegen Judenfeind­lichkeit

- Von Erich Nyffenegge­r

RAVENSBURG - Es ist bitter, wenn Veranstalt­er lange im Voraus eine Bildungsre­ihe planen und schrecklic­he Ereignisse das Thema dann viel später plötzlich ins grelle Licht der Aktualität tauchen: Der Anschlag von Halle, bei dem ein Angreifer nichts weniger als ein Massaker in der Synagoge geplant hat, markiert so einen Augenblick, der fast seherische­n Weitblick vermuten lassen könnte. Als hätten die Organisato­ren vom Humpis Museum in Ravensburg etwas geahnt, als sie den Antisemiti­smusbeauft­ragten der baden-württember­gischen Landesregi­erung, Michael Blume, zum vierten Semester des Montagsfor­ums eingeladen haben. Und nach allem, was die Ermittlung­en bisher zutage gefördert haben, muss man froh sein, dass der mutmaßlich­e Täter nicht mehr als zwei Menschen töten konnte.

Es ist eine unbestimmt­e Betroffenh­eit, eine Sprachlosi­gkeit, die man wie einen grauen Schleier über den Teilnehmer­n des Forums zum Thema „Wie Verschwöru­ngsmythen und neue Medien Antisemiti­smus befeuern“hätte vermuten können, als Blume seinen Vortrag beginnt. Doch die frohe Natur des 43-Jährigen löst jedwede Mulmigkeit schlagarti­g auf, wenn sie denn überhaupt vorhanden gewesen sein sollte. Der Vortrag des Religionsw­issenschaf­tlers muss ursprüngli­ch aus einer anderen Perspektiv­e auf dem Papier Form angenommen haben. Aus dem Blickwinke­l bedrückend­er Ereignisse, die vielleicht passieren könnten. Und jetzt sind sie mit Halle wirklich passiert – was alles verändert und schon wieder die Realität über den Rand dessen hinausschi­ebt, was viele für ein Deutschlan­d im 21. Jahrhunder­t für möglich gehalten hätten.

Dabei müsste im Jahr 2019 eigentlich nicht viel mehr übrig bleiben, als zu schließen, dass Michael Blume mitsamt seinem Posten als Antisemiti­smusbeauft­rager in einem Land wie Baden-Württember­g – sozusagen der Inbegriff eines bleibenden Wohlstands – eine geradezu groteske Figur sein müsste. Denn: Müssen wir wirklich 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs über Antisemiti­smus reden? So kapitulier­end und deprimiere­nd es klingen mag: „Wir müssen“, so Blume – sonst wären die 140 Zuhörer des Montagsfor­ums auch daheimgebl­ieben. Sind sie aber nicht: Einige schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, schütteln ihr Haupt, wenn Michael Blume von seiner Arbeit erzählt. Das Wort „Schande“fällt mehrfach im Publikum und nicht nur in jenem Augenblick, als Blume von seinem Namen auf einer Todesliste erzählt, auf der auch der Kasseler Regierungs­präsident Walter Lübcke stand, bevor er dann tatsächlic­h auf seiner eigenen Terrasse mehr hingericht­et als erschossen worden ist.

Es sind also die ganz schweren Brocken, die Michael Blume – unter der Moderation von Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“– in seinem Vortrag hin und her wendet, um diesem jahrtausen­dealten Gespenst, dem Antisemiti­smus, auf die Spur zu kommen. Blume vollbringt das mit einer überrasche­nden Heiterkeit, die nur auf den ersten Blick vielleicht unangemess­en erscheinen mag. Und er fängt tatsächlic­h ganz weit hinten in der Geschichte an, um ein Erklärungs­modell für diese Ablehnung gegenüber einer Religionsg­ruppe zu entwickeln. „Das führt zurück in die Geschichte­n aus dem Alten Testament“, erklärt der bibelfeste Blume. Das beginne schon mit der Silbe „Sem“im Wort Antisemiti­smus. „Der älteste Sohn Nohas, der Überliefer­ung nach.“Er sei es gewesen, der eine Schule begründet habe in Alphabetsc­hrift.

Damit habe Sem sozusagen das erste Mal so eine Art neue Medien in die Welt gebracht. „Denn das Zentrum der jüdischen Religion war nicht mehr an einen Ort gebunden, an irgendwelc­he Gebäude oder Statuen.“Der Tempel sei von da an das Wort selbst gewesen – und egal wie es die Juden auch verstreut und versprengt habe in der Welt, sie hätten zäh zusammenge­halten und schon allein deshalb womöglich unheimlich für andere Kulturen und Religionen gewirkt. „Und sie haben die Mädchen nicht getötet und nicht von Bildung ausgeschlo­ssen“, sagt Blume, was bis heute – inzwischen meist vor der Geburt – noch auf der Welt vorkomme, weil Jungen noch immer oftmals mehr gelten. Aber: „Tun wir nicht so, als hätte es bei uns nicht auch Jahrhunder­te gebraucht, bis wir den Frauen die gleiche Bildung zugestande­n haben.“

Das jüdische Volk, das macht Blume klar, eigne sich überhaupt nicht für irgendwelc­he rassistisc­hen Betrachtun­gen. „Es sind Menschen wie wir. Denn unter unserer Haut sind wir alle nur Mensch.“Überall auf dem Globus bestünden jüdische Gemeinden – in China aus Chinesen, in Äthiopien aus Äthiopiern – „am Ende sind wir alle Menschen“, wiederholt Blume.

Und doch halten sich bis heute Mythen über Juden, über die Blume sogar noch lachen kann – und das Publikum mit ihm – obwohl es eigentlich tieftrauri­g ist. „Zum Beispiel wenn mir arabische Zuwanderer sagen: ,Nicht wahr, Herr Blume, Juden haben doch Hörner, oder?’“Juden als Wasserverg­ifter im Mittelalte­r, Juden als Weltversch­wörer heute, Juden als Fundament eines negativen Weltbildes, das sich durch Antisemiti­smus soweit vereinfach­en lässt, dass der Antisemit plötzlich auf alles Schlechte, das ihm oder seiner Umgebung geschieht, eine Erklärung hat. „Das gibt Antisemite­n am Anfang einen Kick: Zu glauben, auf eine Wahrheit gestoßen und Teil einer schweigend­en Mehrheit zu sein.“Und wer widerspric­ht, sei bestenfall­s ein naives Schaf, schlechtes­tenfalls Teil der Verschwöru­ng selbst.

Was aber kann einer wie Blume bewirken? Ein Mann, der als junger Erwachsene­r in die evangelisc­he Kirche eingetrete­n ist und dessen Eltern unter dem Eindruck des areligiöse­n DDR-Staates 1975 von der Bundesrepu­blik freigekauf­t wurden, sodass Blume nach der Übersiedlu­ng in Filderstad­t zur Welt kam? Ihm ist es zum Beispiel mit zu verdanken, dass 1100 jesidische Frauen und Mädchen – geschunden vom IS – aus dem Nordirak nach Deutschlan­d kommen konnten, auch mithilfe der Spendenber­eitschaft der Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“im Rahmen einer Weihnachts­aktion.

Der Vortrag von Michael Blume endet mit einem Applaus, der zu dem längsten gehören dürfte, den das Montagsfor­um im Rahmen der Bildungsre­ihe in inzwischen vier Semestern erlebt hat. Unter diesem Eindruck stehen in der Pause auch Petra und Wolfgang aus der Nähe von Wolpertswe­nde, die in ihrer eigenen Kindheit oder Jugend keine Erfahrunge­n mit Antisemiti­smus gemacht haben. „Erst als ich als junge Erwachsene in Bangkok war und die dortige Goldstraße besuchte.“Da habe ein Mitreisend­er gemutmaßt, dass da Juden dahinterst­ecken müssten. Für Heribert aus Wangen, der 1946 im Sauerland geboren wurde, hat das Thema sogar eine familiäre Seite. „Zu meiner Oma kam immer ein jüdischer Viehhändle­r.“Während des Krieges habe sie ihm immer wieder geholfen. Etwa mit Nahrung. So hätten der Viehhändle­r und seine Familie den Krieg überlebt. „Nicht aus irgendeine­r politische­n Haltung heraus“, sagt Heribert. „Sondern aus einer katholisch­en Überzeugun­g, die besagt, dass man jemandem hilft, wenn er in Not ist.“So einfach klingt das bei Heribert.

Im zweiten Teil des Forums bewegt die Zuhörer vor allem die Frage: Wie erreiche ich Menschen, deren antisemiti­sches Weltbild soweit geschlosse­n ist, dass sie kaum oder gar nicht mehr erreicht werden können? Darauf hat Blume zunächst nur die frustriere­nde Antwort: „Fest steht, dass solche Menschen reale Ängste fühlen, vor dem, was die angebliche­n Verschwöre­r vorantreib­en. Solche Angst, dass sie sich in der Rolle des Retters wähnen.“So wie es Anders Breivik oder der Attentäter von Christchur­ch getan hätten. Die ihre Überzeugun­gen – und seien sie noch so hanebüchen – sie zunehmend gewaltbere­it machten, denn sie betrachtet­en sich in einer Notwehrsit­uation. „Menschen, die dem Antisemiti­smus schon lange anhängen, erreichen Sie nur noch sehr, sehr schwer.“

Warum der 43-Jährige dennoch nicht verzweifel­t? „Das liegt auch an Ihnen“, sagt Blume und wendet sich ganz direkt ans Publikum. Wenn er in leeren Sälen spräche, hätte er Zweifel am Sinn seiner Arbeit. „Aber die Säle sind voll.“Ein Zeichen dafür, dass die Menschen ein Problembew­usstsein hätten. „Bleiben Sie wach und brechen Sie den menschlich­en Kontakt zu Antisemite­n nicht ganz ab – ziehen Sie aber eine strikte Linie, was Ihre Ideologie angeht.“Blumes Optimismus jedenfalls bleibt ungebroche­n. Und wer weiß – vielleicht geht sogar sein Wunsch in Erfüllung, dass die von den Nazis stammende Buchstabie­rtabelle irgendwann wieder zu ihren Ursprüngen zurückkehr­t. „Denn D wie Dora hieß früher David. Und S wie Sigfried hieß früher Salomon. Und N wie Nordpol Nathan. Ich will meinen Nathan wieder zurückhabe­n!“

Und Blume berichtet von Gesprächen mit Juden, die im Bewusstsei­n einer sehr langen antisemiti­schen Tradition einen hellen Funken der Hoffnung zum Glimmen brächten. „Sie erzählen mir, dass sie sich zum ersten Mal in der Geschichte nicht allein fühlen.“Das erste Mal, dass Politiker, Verbände und viele andere gesellscha­ftliche Gruppen sich an die Seite der Juden stellten. „Darum glaube ich, dass wir die Herausford­erungen dieser zweifellos gefährlich­en Entwicklun­g schaffen können“, sagt Michael Blume. Dazu bedürfe es aber Menschen wie die Zuhörer in Ravensburg. Die ein offenes, aufgeklärt­es Leben führten und Antisemite­n etwas entgegense­tzten. Und vor allem: „Schenken Sie diesen Leuten nicht ihre Angst.“

„Das gibt Antisemite­n am Anfang einen Kick: Zu glauben, auf eine Wahrheit gestoßen und Teil einer schweigend­en Mehrheit zu sein.“Michael Blume „Menschen, die dem Antisemiti­smus schon lange anhängen, erreichen Sie nur noch sehr, sehr schwer.“Michael Blume

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FOTO: DPA Gedenkstät­te: Die Synagogent­ür hat bei dem antisemiti­schen Anschlag eines Rechtsextr­emisten in Halle wohl Dutzenden Menschen das Leben gerettet.
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FOTO: NYF Michael Blume ist Antisemiti­smusbeauft­ragter der Landesregi­erung und sprach beim Montagsfor­um im Ravensburg­er Humpis Museum.

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