„Am Ende sind wir alle Menschen“
Der Antisemitismusbeauftragte Michael Blume erhebt beim Montagsforum in Ravensburg seine Stimme gegen Judenfeindlichkeit
RAVENSBURG - Es ist bitter, wenn Veranstalter lange im Voraus eine Bildungsreihe planen und schreckliche Ereignisse das Thema dann viel später plötzlich ins grelle Licht der Aktualität tauchen: Der Anschlag von Halle, bei dem ein Angreifer nichts weniger als ein Massaker in der Synagoge geplant hat, markiert so einen Augenblick, der fast seherischen Weitblick vermuten lassen könnte. Als hätten die Organisatoren vom Humpis Museum in Ravensburg etwas geahnt, als sie den Antisemitismusbeauftragten der baden-württembergischen Landesregierung, Michael Blume, zum vierten Semester des Montagsforums eingeladen haben. Und nach allem, was die Ermittlungen bisher zutage gefördert haben, muss man froh sein, dass der mutmaßliche Täter nicht mehr als zwei Menschen töten konnte.
Es ist eine unbestimmte Betroffenheit, eine Sprachlosigkeit, die man wie einen grauen Schleier über den Teilnehmern des Forums zum Thema „Wie Verschwörungsmythen und neue Medien Antisemitismus befeuern“hätte vermuten können, als Blume seinen Vortrag beginnt. Doch die frohe Natur des 43-Jährigen löst jedwede Mulmigkeit schlagartig auf, wenn sie denn überhaupt vorhanden gewesen sein sollte. Der Vortrag des Religionswissenschaftlers muss ursprünglich aus einer anderen Perspektive auf dem Papier Form angenommen haben. Aus dem Blickwinkel bedrückender Ereignisse, die vielleicht passieren könnten. Und jetzt sind sie mit Halle wirklich passiert – was alles verändert und schon wieder die Realität über den Rand dessen hinausschiebt, was viele für ein Deutschland im 21. Jahrhundert für möglich gehalten hätten.
Dabei müsste im Jahr 2019 eigentlich nicht viel mehr übrig bleiben, als zu schließen, dass Michael Blume mitsamt seinem Posten als Antisemitismusbeauftrager in einem Land wie Baden-Württemberg – sozusagen der Inbegriff eines bleibenden Wohlstands – eine geradezu groteske Figur sein müsste. Denn: Müssen wir wirklich 74 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs über Antisemitismus reden? So kapitulierend und deprimierend es klingen mag: „Wir müssen“, so Blume – sonst wären die 140 Zuhörer des Montagsforums auch daheimgeblieben. Sind sie aber nicht: Einige schlagen die Hände über dem Kopf zusammen, schütteln ihr Haupt, wenn Michael Blume von seiner Arbeit erzählt. Das Wort „Schande“fällt mehrfach im Publikum und nicht nur in jenem Augenblick, als Blume von seinem Namen auf einer Todesliste erzählt, auf der auch der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke stand, bevor er dann tatsächlich auf seiner eigenen Terrasse mehr hingerichtet als erschossen worden ist.
Es sind also die ganz schweren Brocken, die Michael Blume – unter der Moderation von Hendrik Groth, Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“– in seinem Vortrag hin und her wendet, um diesem jahrtausendealten Gespenst, dem Antisemitismus, auf die Spur zu kommen. Blume vollbringt das mit einer überraschenden Heiterkeit, die nur auf den ersten Blick vielleicht unangemessen erscheinen mag. Und er fängt tatsächlich ganz weit hinten in der Geschichte an, um ein Erklärungsmodell für diese Ablehnung gegenüber einer Religionsgruppe zu entwickeln. „Das führt zurück in die Geschichten aus dem Alten Testament“, erklärt der bibelfeste Blume. Das beginne schon mit der Silbe „Sem“im Wort Antisemitismus. „Der älteste Sohn Nohas, der Überlieferung nach.“Er sei es gewesen, der eine Schule begründet habe in Alphabetschrift.
Damit habe Sem sozusagen das erste Mal so eine Art neue Medien in die Welt gebracht. „Denn das Zentrum der jüdischen Religion war nicht mehr an einen Ort gebunden, an irgendwelche Gebäude oder Statuen.“Der Tempel sei von da an das Wort selbst gewesen – und egal wie es die Juden auch verstreut und versprengt habe in der Welt, sie hätten zäh zusammengehalten und schon allein deshalb womöglich unheimlich für andere Kulturen und Religionen gewirkt. „Und sie haben die Mädchen nicht getötet und nicht von Bildung ausgeschlossen“, sagt Blume, was bis heute – inzwischen meist vor der Geburt – noch auf der Welt vorkomme, weil Jungen noch immer oftmals mehr gelten. Aber: „Tun wir nicht so, als hätte es bei uns nicht auch Jahrhunderte gebraucht, bis wir den Frauen die gleiche Bildung zugestanden haben.“
Das jüdische Volk, das macht Blume klar, eigne sich überhaupt nicht für irgendwelche rassistischen Betrachtungen. „Es sind Menschen wie wir. Denn unter unserer Haut sind wir alle nur Mensch.“Überall auf dem Globus bestünden jüdische Gemeinden – in China aus Chinesen, in Äthiopien aus Äthiopiern – „am Ende sind wir alle Menschen“, wiederholt Blume.
Und doch halten sich bis heute Mythen über Juden, über die Blume sogar noch lachen kann – und das Publikum mit ihm – obwohl es eigentlich tieftraurig ist. „Zum Beispiel wenn mir arabische Zuwanderer sagen: ,Nicht wahr, Herr Blume, Juden haben doch Hörner, oder?’“Juden als Wasservergifter im Mittelalter, Juden als Weltverschwörer heute, Juden als Fundament eines negativen Weltbildes, das sich durch Antisemitismus soweit vereinfachen lässt, dass der Antisemit plötzlich auf alles Schlechte, das ihm oder seiner Umgebung geschieht, eine Erklärung hat. „Das gibt Antisemiten am Anfang einen Kick: Zu glauben, auf eine Wahrheit gestoßen und Teil einer schweigenden Mehrheit zu sein.“Und wer widerspricht, sei bestenfalls ein naives Schaf, schlechtestenfalls Teil der Verschwörung selbst.
Was aber kann einer wie Blume bewirken? Ein Mann, der als junger Erwachsener in die evangelische Kirche eingetreten ist und dessen Eltern unter dem Eindruck des areligiösen DDR-Staates 1975 von der Bundesrepublik freigekauft wurden, sodass Blume nach der Übersiedlung in Filderstadt zur Welt kam? Ihm ist es zum Beispiel mit zu verdanken, dass 1100 jesidische Frauen und Mädchen – geschunden vom IS – aus dem Nordirak nach Deutschland kommen konnten, auch mithilfe der Spendenbereitschaft der Leser der „Schwäbischen Zeitung“im Rahmen einer Weihnachtsaktion.
Der Vortrag von Michael Blume endet mit einem Applaus, der zu dem längsten gehören dürfte, den das Montagsforum im Rahmen der Bildungsreihe in inzwischen vier Semestern erlebt hat. Unter diesem Eindruck stehen in der Pause auch Petra und Wolfgang aus der Nähe von Wolpertswende, die in ihrer eigenen Kindheit oder Jugend keine Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht haben. „Erst als ich als junge Erwachsene in Bangkok war und die dortige Goldstraße besuchte.“Da habe ein Mitreisender gemutmaßt, dass da Juden dahinterstecken müssten. Für Heribert aus Wangen, der 1946 im Sauerland geboren wurde, hat das Thema sogar eine familiäre Seite. „Zu meiner Oma kam immer ein jüdischer Viehhändler.“Während des Krieges habe sie ihm immer wieder geholfen. Etwa mit Nahrung. So hätten der Viehhändler und seine Familie den Krieg überlebt. „Nicht aus irgendeiner politischen Haltung heraus“, sagt Heribert. „Sondern aus einer katholischen Überzeugung, die besagt, dass man jemandem hilft, wenn er in Not ist.“So einfach klingt das bei Heribert.
Im zweiten Teil des Forums bewegt die Zuhörer vor allem die Frage: Wie erreiche ich Menschen, deren antisemitisches Weltbild soweit geschlossen ist, dass sie kaum oder gar nicht mehr erreicht werden können? Darauf hat Blume zunächst nur die frustrierende Antwort: „Fest steht, dass solche Menschen reale Ängste fühlen, vor dem, was die angeblichen Verschwörer vorantreiben. Solche Angst, dass sie sich in der Rolle des Retters wähnen.“So wie es Anders Breivik oder der Attentäter von Christchurch getan hätten. Die ihre Überzeugungen – und seien sie noch so hanebüchen – sie zunehmend gewaltbereit machten, denn sie betrachteten sich in einer Notwehrsituation. „Menschen, die dem Antisemitismus schon lange anhängen, erreichen Sie nur noch sehr, sehr schwer.“
Warum der 43-Jährige dennoch nicht verzweifelt? „Das liegt auch an Ihnen“, sagt Blume und wendet sich ganz direkt ans Publikum. Wenn er in leeren Sälen spräche, hätte er Zweifel am Sinn seiner Arbeit. „Aber die Säle sind voll.“Ein Zeichen dafür, dass die Menschen ein Problembewusstsein hätten. „Bleiben Sie wach und brechen Sie den menschlichen Kontakt zu Antisemiten nicht ganz ab – ziehen Sie aber eine strikte Linie, was Ihre Ideologie angeht.“Blumes Optimismus jedenfalls bleibt ungebrochen. Und wer weiß – vielleicht geht sogar sein Wunsch in Erfüllung, dass die von den Nazis stammende Buchstabiertabelle irgendwann wieder zu ihren Ursprüngen zurückkehrt. „Denn D wie Dora hieß früher David. Und S wie Sigfried hieß früher Salomon. Und N wie Nordpol Nathan. Ich will meinen Nathan wieder zurückhaben!“
Und Blume berichtet von Gesprächen mit Juden, die im Bewusstsein einer sehr langen antisemitischen Tradition einen hellen Funken der Hoffnung zum Glimmen brächten. „Sie erzählen mir, dass sie sich zum ersten Mal in der Geschichte nicht allein fühlen.“Das erste Mal, dass Politiker, Verbände und viele andere gesellschaftliche Gruppen sich an die Seite der Juden stellten. „Darum glaube ich, dass wir die Herausforderungen dieser zweifellos gefährlichen Entwicklung schaffen können“, sagt Michael Blume. Dazu bedürfe es aber Menschen wie die Zuhörer in Ravensburg. Die ein offenes, aufgeklärtes Leben führten und Antisemiten etwas entgegensetzten. Und vor allem: „Schenken Sie diesen Leuten nicht ihre Angst.“
„Das gibt Antisemiten am Anfang einen Kick: Zu glauben, auf eine Wahrheit gestoßen und Teil einer schweigenden Mehrheit zu sein.“Michael Blume „Menschen, die dem Antisemitismus schon lange anhängen, erreichen Sie nur noch sehr, sehr schwer.“Michael Blume