Auf der Suche nach der Vorgeschichte
Archäologen erforschen bei Leutkirch einen Fundort aus der Bronzezeit – Die Wissenschaft kann inzwischen ein immer deutlicheres Bild des damaligen Lebens entwerfen
LEUTKIRCH - Am besten ist es wohl, erst einmal das eigene Vorstellungsvermögen spielen zu lassen. Dies bedeutet eine Zeitreise, die gut 3500 Jahre zurückgeht. Auf dem Ausläufer eines Höhenrückens bei Leutkirch im Allgäu stehen ein paar Hütten, Rauch von Herdfeuern steigt auf, Menschen gehen ihrem Tagwerk nach, Sauen, Rinder und Ziegen drücken sich herum. Geschützt wird das Ganze von einem Wall, der den Sporn vom Berg abtrennt. Neben der Mini-Siedlung erheben sich Grabhügel. Unten im Tal der Eschach, wo heute eine moderne Straße verläuft, ziehen Händler auf einem Pfad entlang. Sie bringen auf ihrem Rücken oder auf Saumtieren Waren weit nach Norden oder in den Süden. Willkommen in der Bronzezeit.
Natürlich greift man mit diesem Kopfkino der Archäologie vor. Ob es wirklich so war, wird nie ganz sicher sein. Es gibt keine schriftliche Überlieferung, nur Indizien – wie bei einem Kriminalfall ohne Zeugen. Die archäologische Forschung macht aber rasante Fortschritte. Sie nähert sich dem wirklichen Leben immer mehr an. Jene tatsächlich einst bei Leutkirch stehende Mini-Siedlung ist ein aktuelles Beispiel dafür – zumal solch kleine, isolierte Fundorte lange Zeit für viele Archäologen offenbar wenig anziehend erschienen. Dazu aber später mehr. Zuerst will Benjamin Höpfer, ein junger, drahtiger Archäologe der Uni Tübingen, „die Interdisziplinarität“feiern: „Sie hilft uns extrem.“
Er meint das Zusammenspiel diverser Fachrichtungen: Ausgräber, Geologen, Biologen, Chemiker, Physiker et cetera. Neu ist dies nicht. Aber die technische Entwicklung hat zu wesentlich feineren Analyse-Methoden geführt. Dieser Umstand, schreibt das Landesamt für Denkmalpflege, habe zu einem „enormen Zuwachs an Erkenntnissen in den vergangenen 20, 30 Jahren geführt“. Bloß um ein paar Beispiele zu nennen: Pollenproben lassen Ur-Vegetation und Fruchtanbau deutlich werden, Bodenkundler können in der Erde Hormone und Enzyme feststellen – Reste von Ausscheidungen. Diese verweisen wiederum auf einen vorgeschichtlichen Viehbestand.
Während Höpfer solch ausgefuchste Kooperationen lobt, steht er dort, wo einem das Kopfkino die schönen Bilder vorgespielt hat. Das, was aber in der Gegenwart auf dem besagten Leutkircher Spornberg zu sehen ist, kann hingegen als ernüchternd beschrieben werden: Fichten, daneben viel Gestrüpp. Hier will Höpfer als Grabungsleiter Licht ins geschichtliche Dunkel bringen. „Das ist tatsächlich eine Detektivaufgabe“, meint Höpfer, während er ein Bodenprofil abmisst.
Dass ausgerechnet auf dem Sporn gewerkelt wird, hängt mit zwei Faktoren zusammen. Bodenunebenheiten und runde Erhebungen waren bereits Landesvermessern im 19. Jahrhundert aufgefallen. Zudem fand schon vor Jahrzehnten ein Heimatpfleger Scherben. „Wir wussten also schon lange“, bestätigt der Archäologe, „hier ist etwas.“
Wären Ausgräber aber ein oder zwei Generationen früher zu der Stätte gezogen, hätte sich ihr Job wohl recht traditionell dargestellt: Tonscherben oder Knochenreste suchen, anhand von Bodenspuren Pfostenlöcher ehemaliger Hüttenstützen dokumentieren. Das Gefundene hätte mit etwas Glück den Weg in Museumsvitrinen gefunden – wo der Betrachter dann vor Überresten mit nichtssagenden Beschriftungen à la „Keramik, Bronzezeit“gestanden wäre. Heutzutage lassen sich dagegen verfeinerte historische Lebenswelten entwerfen – und zwar abseits von Ammenmärchen in Jugendromanen oder Hollywoodfilmen.
Einer breiten Öffentlichkeit abseits von Fachzirkeln wurde diese Entwicklung bereits 2016 bei der großen Landesausstellung „4000 Jahre Pfahlbauten“in Bad Schussenried und Bad Buchau präsentiert. Bis in mögliche Glaubenskulte hinein gab es Darstellungen aus jener Epoche. Solch dicke Bretter sind auf dem Sporn wohl nicht zu bohren. Aktuell untersucht Höpfer mit einem kleinen Team zwei Erhebungen. Eineinhalb Meter tiefe Grabungsschnitte durchziehen sie, sorgsam mit dem Spaten ausgehoben. Und tatsächlich: Die Erhebungen sind menschengemacht, wie nur durch einen Spezialistenblick zu unterscheidende Bodenschichten zeigen. Ein Aschefund könnte der Beweis sein, dass es sich um Hügelgräber handelt. Tiefere Erkenntnisse dürften Laboruntersuchungen des Gefundenen bringen. Dazu zählen Scherben, Holzkohlereste sowie Asche.
Ein paar Meter entfernt ist Höpfer mit den Forschungen weiter. Im vergangenen Jahr während der ersten Grabungsperiode stellten er und seine Leute fest, dass eine von Brombeersträuchern überwucherte Bodenwelle tatsächlich ein Wall war. „Ursprünglich vielleicht drei Meter hoch“, schätzt Höpfer. Damals gefundene Tonscherben legen eine Entstehung in der Bronzezeit nahe. Ebenso tun dies Holzkohlestücke nach einer Radiokohlenstoffdatierung, der C14-Methode. Naheliegend sei ein Bau zwischen 1800 und 1500 vor Christus Geburt.
Was sollte aber eine solche Befestigung an einer heutzutage sinnlos erscheinenden Ecke? Der Archäologe kann sich unter anderem vorstellen, dass die kleine Anlage „als eine Art Stützpunkt zur Kontrolle der wohl im Tal verlaufenden Handelsroute diente“. Auffällig sei, dass es oft Fundstellen an Talrändern entlang von Verkehrsachsen gebe. Die Stützpunkt-These liegt zudem mit Blick auf spätere Entwicklungen nahe. So säumten etwa während des Mittelalters Burgen die Handelswege. Womöglich lässt sich die These durch eine 500 Meter entfernt festgestellte Talsiedlung untermauern: unten das zivile Dorf, oben der wehrhafte Stützpunkt.
„Vieles aus jener Epoche muss aber erst noch erforscht werden“, sagt Höpfer. Er spricht damit einen Punkt an, der vor allem frühere Archäologen-Generationen betrifft. Sie haben sich anfangs eher auf potentielle Zentren der Frühzeit gestürzt. Dazu zählt etwa die bekannte Heuneburg am Oberlauf der Donau, seit der mittleren Bronzezeit ein Siedlungsfleck, später eine Kelten-Stadt.
Untersuchungen übers weite Land hinweg scheinen dagegen immer mal wieder hintenangestellt worden zu sein – vor allem wenn es um Kleinobjekte ging. Dies galt besonders, wenn sie als unbedroht von modernen Überbauungen galten. Dieses Vorgehen hat jedoch Folgen: Ganze Regionen blieben unberücksichtigt. Hier kommt ein weiterer aktueller Ansatz der Grabungen bei Leutkirch ins Spiel. Sie gehören zu einem bis 2021 laufenden Projekt namens „Gunst – Ungunst?“Hierbei kooperiert die Tübingern Archäologen-Fakultät mit dem Landesamt für Denkmalpflege. „Die Untersuchungen lassen speziell durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit neue Erkenntnisse zur bronzezeitlichen Besiedlung des Allgäus erwarten“, sagt Doris Schmid, Referentin für vor- und frühgeschichtliche Archäologie bei den Denkmalpflegern.
Es geht dabei um mehrere Forschungsansätze. Weshalb rückten Menschen in ungünstigere Lebensräume vor? Das Allgäu war auch seinerzeit rau. Vielleicht zogen Siedler wegen eines Klimawandels in die höhere Region? Pollenproben haben ergeben, dass es seinerzeit im flacheren Land trockener wurde. Das eher feuchte Allgäu könnte also für Bauern an Attraktivität gewonnen haben.
Eventuell ging es auch um die Gunst, an einem Fernhandelsweg zu leben. Dass er existierte, liegt schon aufgrund des Geländesreliefs nahe. Es bietet eine komfortable Route zwischen Donau und östlichem Bodensee. Beim nahen Isny verlief später eine Römerstraße. Weitere Funde in der Region untermauern laut Archäologen das Naheliegende.
„Fernhandel“, erklärt Höpfer dazu, „hat in der Bronzezeit eine immer wichtigere Rolle gespielt. Er gilt als kulturprägend.“Zwar war schon zuvor in der Steinzeit gehandelt worden. Aber erst die Entwicklung von Bronze brachte richtig Schwung ins Geschäft. Der Hintergrund: Fürs Herstellen von Bronze braucht es Kupfer und Zinn. Funde von Schwertern oder Schmuck zwischen Donau und Bodensee haben ergeben, dass Zinn aus dem Harz oder aus Cornwall kam. Kupfer erreichte die Region aus den Ostalpen, etwa aus Stollen des Mitterbergs im Salzburger Land. Woher man das weiß? Hier kommt einmal mehr die moderne Interdisziplinarität ins Spiel, die Isotopenanalyse in diesem Fall. Je nach Fundherkunft unterscheiden sich die Elemente.
Hochspannend wird es, sollten menschliche Reste ausgegraben werden, die Genanalysen ermöglichen. Dies ist Kollegen von Höpfer weiter östlich im Lechtal vor wenigen Jahren gelungen. In Gräberfeldern der Bronzezeit fanden sich die Reste von 400 Menschen, Bewohnern von sechs in der Nähe festgestellten Gehöften. Ihre DNA ergab, dass sie Nachfahren von Steppensippen aus der heutigen Ukraine waren. Für 700 Jahre lassen sich Stammbäume aufstellen. „Offenbar gab es in der Bronzezeit in Süddeutschland über Jahrhunderte hinweg stabile Verhältnisse“, hat Philipp Stockhammer, einer der leitenden Ausgräber von der Münchner Ludwig-MaximiliansUniversität, daraus geschlossen.
Von solch aufsehenerregenden Funden ist Höpfer auf dem Spornberg bei Leutkirch ein Stück weit entfernt. Selbst die hochentwickelte Laserscan-Technik aus der Luft zum Erkennen von Bodenstrukturen habe nur Bekanntes bestätigt. Das Untersuchen einer nahen Wiese mittels Magnetometer scheint hingegen interessanter gewesen zu sein. Das Gerät kann Unnatürlichkeiten unter der Grasnarbe messen – etwa verursacht durch Metall. „Wir haben tatsächlich Anomalien festgestellt“, berichtet Höpfer.
Nun könnte man wieder die eigene Phantasie bemühen. Liegen dort Bronzeschwerter? Vorgeschichtlicher Schmuck? Ein archäologischer Schatz? Die Fragen bleiben leider offen. Der Wiesenbesitzer wollte die Archäologen nicht graben lassen.
„Wir wussten also schon lange, hier ist etwas.“Archäologe Benjamin Höpfer
„Fernhandel hat in der Bronzezeit eine immer wichtigere Rolle gespielt. Er gilt als kulturprägend.“Archäologe Benjamin Höpfer