Beim letzten Auftritt wirkt Juncker missgestimmt
Der scheidende EU-Kommissionspräsident zieht vor dem Parlament eine gemischte Bilanz – Doch seine Lebensleistung bestreitet niemand
BRÜSSEL - 147 EU-Gipfel, 197 Finanzministerräte, 164 Treffen der Eurogruppe, knapp sechshundert Zusammenkünfte auf höchster europäischer Ebene – das ist die Lebensbilanz von Jean-Claude Juncker in Zahlen. Nicht einmal seine politischen Gegner bestreiten vermutlich, dass er als leidenschaftlicher Europäer in eine Reihe mit den ganz Großen gehört.
Was allerdings die Krönung dieser Karriere hätte sein sollen, die nun zu Ende gehende Amtszeit als Präsident der mächtigen Brüsseler EUKommission, ergibt eine gemischte Bilanz. Zwar gelang es Juncker, aus 27 Kommissaren unterschiedlicher geografischer und politischer Herkunft und einem chronisch eigenwilligen Beamtenapparat ein Team zu formen. Für seine Ideen ließen sie sich deutlich mehr begeistern als für die Projekte seines Vorgängers Manuel Barroso. Doch rapide fortschreitender körperlicher Verfall, eine zunehmende Ungeduld mit kritischen Stimmen und die beängstigende Abhängigkeit von seinem Chefeinflüsterer Martin Selmayr trüben dieses positive Bild.
Und so fiel am Dienstag seine einhundertfünfte und wohl letzte Rede im Europaparlament recht kurz angebunden aus und kam zudem reichlich missmutig daher. Es habe ihn geschmerzt, so viel Zeit mit dem Brexit vergeuden zu müssen – Zeit, in der er lieber darüber nachgedacht hätte, wie Europa seinen Bürgern noch besser dienen könne. Bei den Finanzverhandlungen über die nächste Sieben-Jahres-Periode laufe die Zeit davon. Das werde zu finanziellen Engpässen in den Jahren 2021 und 2022 führen. Auf Französisch las Juncker sodann Frankreichs Staatspräsident die Leviten. Es sei ein großer Fehler, die Beitrittsgespräche mit Nord-Mazedonien und Albanien weiter zu verschieben. Es werfe beide Länder in ihrer Entwicklung zurück und schwäche Europas Glaubwürdigkeit.
Hätte Juncker am Dienstag in der Parlamentsdebatte aufmerksam zugehört, hätte sich seine Laune vielleicht gebessert. Denn über alle Parteigrenzen hinweg verneigten sich fast alle Abgeordneten vor seiner Lebensleistung. Auch die Bilanz, die sein Team zusammengestellt hat, kann sich sehen lassen. Das Wachstum hat sich bei jährlich zwei Prozent eingependelt, die Neuverschuldung ist von 6,6 Prozent 2009 auf 0,7 Prozent im vergangenen Jahr gesunken. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich gefallen, 14 Millionen neue Jobs wurden in den vergangen fünf Jahren in der EU geschaffen. Auch die Bürger sehen die EU wieder in positiverem Licht. Nach einem Einbruch während der Flüchtlingskrise sind die Zustimmungswerte wieder gestiegen und liegen zehn Prozent über denen für nationale Regierungen.
Dennoch fühlt sich der Mann, der schon als Luxemburger Finanzminister „Mister Euro“genannt wurde, von seinen Zeitgenossen unverstanden. Als ihm eine linke Abgeordnete in der Debatte vorhielt, als Premierminister Luxemburg zum Steuerparadies ausgebaut zu haben, wog das offensichtlich schwerer für ihn als alle Lobeshymnen zuvor. Sie habe falsche Zahlen verwendet, zischte Juncker in ihre Richtung und ließ seine geplante zehnminütige Schlussansprache vor dem Plenum in Straßburg einfach ausfallen.