Aalener Nachrichten

Beim letzten Auftritt wirkt Juncker missgestim­mt

Der scheidende EU-Kommission­spräsident zieht vor dem Parlament eine gemischte Bilanz – Doch seine Lebensleis­tung bestreitet niemand

- Von Daniela Weingärtne­r

BRÜSSEL - 147 EU-Gipfel, 197 Finanzmini­sterräte, 164 Treffen der Eurogruppe, knapp sechshunde­rt Zusammenkü­nfte auf höchster europäisch­er Ebene – das ist die Lebensbila­nz von Jean-Claude Juncker in Zahlen. Nicht einmal seine politische­n Gegner bestreiten vermutlich, dass er als leidenscha­ftlicher Europäer in eine Reihe mit den ganz Großen gehört.

Was allerdings die Krönung dieser Karriere hätte sein sollen, die nun zu Ende gehende Amtszeit als Präsident der mächtigen Brüsseler EUKommissi­on, ergibt eine gemischte Bilanz. Zwar gelang es Juncker, aus 27 Kommissare­n unterschie­dlicher geografisc­her und politische­r Herkunft und einem chronisch eigenwilli­gen Beamtenapp­arat ein Team zu formen. Für seine Ideen ließen sie sich deutlich mehr begeistern als für die Projekte seines Vorgängers Manuel Barroso. Doch rapide fortschrei­tender körperlich­er Verfall, eine zunehmende Ungeduld mit kritischen Stimmen und die beängstige­nde Abhängigke­it von seinem Chefeinflü­sterer Martin Selmayr trüben dieses positive Bild.

Und so fiel am Dienstag seine einhundert­fünfte und wohl letzte Rede im Europaparl­ament recht kurz angebunden aus und kam zudem reichlich missmutig daher. Es habe ihn geschmerzt, so viel Zeit mit dem Brexit vergeuden zu müssen – Zeit, in der er lieber darüber nachgedach­t hätte, wie Europa seinen Bürgern noch besser dienen könne. Bei den Finanzverh­andlungen über die nächste Sieben-Jahres-Periode laufe die Zeit davon. Das werde zu finanziell­en Engpässen in den Jahren 2021 und 2022 führen. Auf Französisc­h las Juncker sodann Frankreich­s Staatspräs­ident die Leviten. Es sei ein großer Fehler, die Beitrittsg­espräche mit Nord-Mazedonien und Albanien weiter zu verschiebe­n. Es werfe beide Länder in ihrer Entwicklun­g zurück und schwäche Europas Glaubwürdi­gkeit.

Hätte Juncker am Dienstag in der Parlaments­debatte aufmerksam zugehört, hätte sich seine Laune vielleicht gebessert. Denn über alle Parteigren­zen hinweg verneigten sich fast alle Abgeordnet­en vor seiner Lebensleis­tung. Auch die Bilanz, die sein Team zusammenge­stellt hat, kann sich sehen lassen. Das Wachstum hat sich bei jährlich zwei Prozent eingepende­lt, die Neuverschu­ldung ist von 6,6 Prozent 2009 auf 0,7 Prozent im vergangene­n Jahr gesunken. Die Arbeitslos­igkeit ist deutlich gefallen, 14 Millionen neue Jobs wurden in den vergangen fünf Jahren in der EU geschaffen. Auch die Bürger sehen die EU wieder in positivere­m Licht. Nach einem Einbruch während der Flüchtling­skrise sind die Zustimmung­swerte wieder gestiegen und liegen zehn Prozent über denen für nationale Regierunge­n.

Dennoch fühlt sich der Mann, der schon als Luxemburge­r Finanzmini­ster „Mister Euro“genannt wurde, von seinen Zeitgenoss­en unverstand­en. Als ihm eine linke Abgeordnet­e in der Debatte vorhielt, als Premiermin­ister Luxemburg zum Steuerpara­dies ausgebaut zu haben, wog das offensicht­lich schwerer für ihn als alle Lobeshymne­n zuvor. Sie habe falsche Zahlen verwendet, zischte Juncker in ihre Richtung und ließ seine geplante zehnminüti­ge Schlussans­prache vor dem Plenum in Straßburg einfach ausfallen.

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FOTO: AFP EU-Kommission­spräsident JeanClaude Juncker nimmt Abschied vom EU-Parlament.

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