Von der Angst, in der Zelle vergessen zu werden
Der Journalist Deniz Yücel saß Monate in türkischer Haft – In Ulm sprach er über die Zeit hinter Gittern
ULM - Nur wenigen Menschen wird die Ehre zuteil, dass der türkische Präsident eigens für sie ein neues Wort erfindet. Deniz Yücel gelang dieses Kunststück. Recep Tayyip Erdogan bezeichnete ihn als „Agentterrorist“– ein Begriff, den es bis dato nicht gab in der Türkei. Ein Jahr lang saß der Journalist in Istanbul in Haft. Worüber er in seinem neuen Buch erzählt, aus dem er nun in Ulm vorgelesen hat. Was ihm half, während dieser Zeit nicht verrückt zu werden: die Solidaritätsbekundungen, das Schreiben – und Humor.
Zum Glück, so Yücel am Montagabend im Ulmer Kulturzentrum Roxy, sei Erdogan auf vielen Feldern ein Stümper. Anders als der russische Staatschef Wladimir Putin, der ebenfalls Teil ist einer Gruppe von autoritären Herrschern, die derzeit die Welt verunsichern.
Die russische Haft hätte Yücel wohl nicht ganz so schadlos überstanden. Aber wie gesagt: Zum Glück, so Yücel, wurde Erdogan bei den Istanbuler Verkehrsbetrieben ausgebildet und nicht – wie Putin – beim KGB.
Ein Konstrukt des Präsidenten
Die Geschichte seiner Verhaftung und Gefängniszeit ist voller Abstrusitäten. Der Vorwurf, der gegen ihn erhoben wurde: Er sei ein Terrorist, ein „Agentterrorist“sogar. Der von Erdogan erschaffene Begriff ist der Titel von Yücels neuem Buch. Darin schildert er, wie ihn die Ausübung seines Jobs („den Mächtigen auf die Finger zu schauen“) ins Gefängnis brachte.
Yücel hatte das Pech, einer der Empfänger diverser E-Mails zu sein, die das Treiben von Erdogans Schwiegersohn, zugleich Energieminister, offengelegt hatten.
Yücel wurde verhaftet, wohl, wie er vermutet, um zu zeigen, dass nach dem Putschversuch und dem Ausnahmezustand in der Türkei von nun an auch Nicht-Türken sich nicht mehr sicher fühlen können in Erdogans Staat.
Mehr als ein Jahr saß der geborene Hesse, der auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, und für die „Welt“aus der Türkei berichtete, hinter Gittern. Von Februar 2017 bis Februar 2018.
Mehr als 500 Interessierte lockte seine Ulmer Lesung an. In der ersten Reihe: Mesale Tolu. Die Ulmerin musste, während auch Yücel einsaß, acht Monate in einem türkischen Gefängnis verbringen.
Wie man hinter Gittern lebt, überlebt? Yücel entschied sich, einfach weiterzumachen, als hätten sich lediglich die äußeren Umstände (Mauern und Gitter, eine „Symphonie aus Beton und Stahl“) geändert. Nach und nach fand er Lücken im Sicherheitssystem, durch die er Botschaften und Texte schmuggelte. Er bezog sogar mehrere Zeitungsabos. 15 seiner Artikel fanden in dieser Zeit ihren Weg in Zeitungen. „Im Gefängnis zu sitzen“, so Yücel in Ulm, sei schließlich „keine Ausrede, um nicht sauber recherchieren zu können“.
Um den Draht zur Außenwelt nicht zu verlieren, behalf er sich eines Tricks. Er verfasste Briefe an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Zunächst sei dies auf Skepsis der Gefängnisverwaltung gestoßen. Er habe dann aber – inhaltlich korrekt – darauf verwiesen, dass sich auch Erdogan einst an diesen gewandt hatte. Damit habe er die Brieflesekommission, die wirklich so heiße, davon überzeugen können, dass er schon kein Schindluder mit den Briefen treiben werde. Dieses Argument zog: Wenn der Präsident das gemacht habe, könne daran nichts Falsches sein.
Gemeinsamkeiten mit Erdogan
Seinen Humor hat Yücel im Gefängnis nicht verloren. Stellenweise lachten die Zuhörer in Ulm laut auf. Der Witz als Waffe – die sich nicht einsperren lässt. „Wenn ich Dinge schon nicht ändern kann, kann ich zumindest eines: sie auslachen“, so Yücel. Der sich zu einem Meister darin entwickelt hat, Erdogan nachzuahmen. Wobei sie auch einiges gemein hätten, so Yücel. „Wir reden beide zu viel.“Der Unterschied: Bei ihm hätten die Menschen keine Angst, ihn zu unterbrechen.
Yücel gab sich im Gefängnis pragmatisch. „Ich war ein guter Junge.“In der Folge sei er von den Wärtern ebenfalls relativ gut behandelt worden. Ein gewisses Alleinstellungsmerkmal in türkischen Gefängnissen. In seinem Buch schildert er, wie ein Mitgefangener im Polizeigewahrsam vom großmäuligen Gang-Mitglied zum heulenden Häuflein Elend geprügelt wurde – bis der die ihm vorgeworfene Tat gestand. Folter als Knastalltag.
Die erste Lesung seines Buches hatte Yücel passenderweise in einem deutschen Gefängnis abgehalten. Es gebe ein Gefühl, das alle Menschen, die einsitzen, teilen würden. „Die größte Angst im Knast ist es, in der Zelle vergessen zu werden.“
Yücel wurde nicht vergessen. Was nicht nur der Verdienst der Menschen sei, die ihm regelmäßig bei Mahnwachen und Demos ihre Solidarität bekundeten, wovon er im Gefängnis immer erfahren habe. Auch die Bundesregierung habe sich eingesetzt, was mit zu seiner Entlassung geführt habe.
Aber: Über die Strategie, wie man mit der türkischen Regierung verhandeln müsse, seien sich er und seine Anwälte mit der deutschen Regierung nicht immer einig gewesen. Auch seine eigene Strategie habe sicher gefruchtet und ihr Scherflein zu seiner Freilassung beigetragen. Er wollte dem türkischen Staat so „auf die Nerven gehen“, bis der ihn gehen lässt.
Er habe nie Teil eines faulen Deals zwischen Ankara und Berlin, sein wollen, und auch nie ein „Posterboy“aus dem Knast. Er habe lediglich seinen Job gemacht. Als Journalist, der auch da hingeht, wo es wehtut. Paradoxerweise sei das Gefängnis auch ein Ort gewesen, der „befreiend“gewirkt habe. Denn: Bist du einmal drin, „können sie dich zumindest nicht mehr einsperren“. Aber noch aus anderen Gründen bleibt ihm das Gefängnis immer auch in guter Erinnerung. Er hat dort seine Freundin geheiratet.