Kritik nach Todesfällen in Polizeizellen
Forensiker wirft Behörden mangelnde Sorgfalt vor – FDP will Insassen besser überwachen
STUTTGART - Viele Todesfälle in Ausnüchterungszellen ließen sich mit mehr Sorgfalt von Polizei und Ärzten verhindern. Das sagt Rechtsmediziner Professor Steffen Heide der „Schwäbischen Zeitung“. Es habe sich zwar einiges für die Sicherheit in den Zellen getan. „Aber nicht zuletzt die fünf Fälle in Baden-Württemberg zeigen ja, dass es weiter Vorfälle gibt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen wären“, sagt Heide. Im Südwesten starben seit Januar fünf Männer in Polizeigewahrsam,
der letzte von ihnen in Spaichingen. Dort ermittelt noch die Staatsanwaltschaft, in allen übrigen Fällen gab es laut Innenministerium „keine Hinweise auf ein strafrechtlich relevantes Fehlverhalten der eingesetzten Polizeibeamten“. Die Ermittlungen seien daher eingestellt worden. Alle Männer seien von Ärzten für hafttauglich befunden worden.
Die oppositionelle FDP fordert von Innenminister Thomas Strobl (CDU), neue Technologien zu erproben, die Vitalfunktionen von Zelleninsassen überwachen. Das sei dringend notwendig, denn, so FDP-Innenexperte
Ulrich Goll, „das Problem scheint gravierender zu sein, als bislang angenommen“.
Laut Innenministerium beobachte man den Markt und sei dazu auch in Kontakt mit anderen Bundesländern. Derzeit halte man aber keines der Systeme für den Einsatz bei der Polizei geeignet. Allerdings werden mehr als 70 Prozent der Gewahrsamszellen mit Videokameras überwacht, das Land will auch den Rest nachrüsten.
Ein Sprecher von Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte, man habe bereits Konsequenzen aus den Todesfällen gezogen, weitere Überprüfungen der Abläufe liefen. So habe es „einzelne Optimierungsmaßnahmen“gegeben, etwa beiden Verantwortlichkeiten, der Durchführung von Gewahrsams fähigkeits untersuchungen und Zellen kontrollen. Weiterhin nicht geplant sei dagegen eine zentrale Erfassung der Todesfälle in Gewahrsam. Aus Sicht des Rechtsmediziners Heide ein Fehler: „Da vergibt man sich einiges. Länder wie Großbritannien, die Niederlande oder Dänemark führen solche Datenbanken und leiten aus den Analysen konkrete Punkte ab, um weitere Todesfälle zu verhindern“.
STUTTGART - Fünf Menschen sind seit Januar in Baden-Württembergs Ausnüchterungszellen gestorben, das letzte Opfer gab es in Spaichingen. Die Obduktion ergab: Der Obdachlose war betrunken und stürzte wohl von einer Liege aufs Gesicht. Professor Steffen Heide ist Rechtsmediziner an der Universitätsklinik Halle (Saale). Der Wissenschaftler hält viele Fälle für vermeidbar – auch den in Spaichingen. Warum, hat er Katja Korf erklärt.
Professor Heide, Sie haben Todesfälle in Gewahrsam untersucht. Was waren die Ergebnisse?
Zwischen 1993 bis 2003 gab es deutschlandweit 128 Todesfälle, lediglich 60 konnten wir näher auswerten. In den übrigen Fällen war das nicht möglich – zum Beispiel, weil wir die entsprechenden Akten nicht bekommen haben oder weil es nicht einmal eine Obduktion gab. Und ohne diese kann man einen Todesfall natürlich nicht objektiv analysieren. 26 Prozent der Betroffenen starben an einer Alkoholvergiftung, jeweils rund ein Fünftel an Drogen- oder Medikamentenvergiftung, einem Schädel-Hirn-Traumata oder einer inneren Erkrankung. 14 Prozent der Menschen haben sich selbst getötet.
Gibt es neuere Studien dazu?
Nein, jedenfalls nicht deutschlandweit. Solche Studien sind extrem aufwendig und schwierig. Man muss schon sehr hartnäckig sein, um diese Akten zu bekommen.
Baden-Württemberg hat ebenfalls keine solche Statistik. Was halten Sie davon?
Da vergibt man sich einiges. Natürlich sind solche Fälle problematisch. Aber man kann einiges daraus lernen. Länder wie Großbritannien, die Niederlande oder Dänemark führen solche Datenbanken und leiten aus den Analysen konkrete Punkte ab, um weitere Todesfälle zu verhindern.
Hat sich denn seit Ihrer Untersuchung etwas verändert?
Grundsätzlich ja, so werden Gewahrsamszellen heute fast überall per Video überwacht. Aber nicht zuletzt die fünf Fälle in BadenWürttemberg zeigen ja, dass es weiter Vorfälle gibt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit vermeidbar gewesen wären. Es lässt sich nicht jeder Tote verhindern. Wenn zum Beispiel ein Betroffener an einer Herzmuskelentzündung leidet, aber niemandem sagt, dass er Beschwerden hat. Und im internationalen Vergleich liegt Deutschland nicht so schlecht, in anderen Staaten sterben mehr Menschen in Gewahrsam – trotz der vielen Defizite bei uns. In unserer Studie kamen wir zu dem Schluss, dass gut zwei Drittel der später Verstorbenen mit mehr Sorgfalt sehr gute Überlebenschancen gehabt hätten.
Was kann man denn machen, um Todesfälle zu vermeiden?
Wenn die Polizei eine Person in Gewahrsam nimmt und es Zweifel an deren gesundheitlichem Zustand gibt, muss ein Arzt hinzugezogen werden. Die genauen Kriterien dafür sind leider von Bundesland zu Bundesland verschieden. In unserer Studie haben wir nachgewiesen, dass Ärzte zu selten die Aufnahme eines Patienten ins Krankenhaus veranlasst haben. Vier Männer waren bei der Untersuchung bewusstlos, dennoch hat der herbeigerufene Arzt sie nicht in eine Klinik überweisen. Später sind sie dann an einer Alkoholvergiftung gestorben.
Und die Polizeibeamten, was können die besser machen?
Viele Polizisten haben keinen Arzt hinzugezogen, obwohl es vorgeschrieben war. Das kann an mangelnder Sorgfalt liegen oder daran, dass die Beamten keinen Arzt gefunden haben. Das ist leider keine Seltenheit: Ärzte übernehmen bei solchen Begutachtungen eine sehr große Verantwortung. Die Betroffenen sind Hochrisikopatienten – oft alkoholisiert oder unter Drogen stehend, nicht kooperativ, manche waren kurz vorher in eine Schlägerei verwickelt oder sind gestürzt. Da zu sagen, ob jemand in Gewahrsam kann oder ins Krankenhaus gehört, ist nicht einfach. Doch im Verhältnis dazu wird diese Aufgabe schlecht bezahlt – auch in Baden-Württemberg.
Wenn ein Betrunkener in Gewahrsam kommt – wie oft müsste er kontrolliert werden? Die entsprechende Verordnung in BadenWürttemberg spricht von „regelmäßig, bei Zweifelsfällen in kurzen Abständen“.
Solche Formulierungen helfen überhaupt nicht weiter. Denn was ist „regelmäßig“? Die Polizisten bräuchten schon zu ihrer eigenen Sicherheit genaue Vorgaben. Im Normalfall sind 60 Minuten sicher angemessen, bei problematischen Fällen 30 Minuten, im Einzelfall auch kürzer. Wichtig ist, dass auch der Arzt diese Intervalle kennt und im Zweifel kürzere Fristen zwischen Kontrollen anordnet. Außerdem sollte man festlegen, wie kontrolliert wird – es reicht nicht, nur in die Zelle zu schauen und zu hören, dass jemand schnarcht. Bei betrunkenen Menschen mit einem Schädel-Hirn-Trauma etwa kann das auch ein Hineindämmern in den Tod sein. Man muss die Betroffenen wachrütteln und schauen, ob sie erweckbar sind.
73 Prozent aller Gewahrsamszellen in Baden-Württemberg werden videoüberwacht, in den kommenden Jahren sollen alle Einrichtungen Kameras haben. Zu Recht?
Ja, schon heute wäre das in jeder Zelle empfehlenswert. Solche Videoüberwachung kann schwere Unfälle bis hin zum Tod verhindern. Die Polizei braucht dann aber auch ausreichend Personal, um die Videobilder aus den Zellen zu kontrollieren.
Es gibt Forderungen danach, Vitalfunktionen wie Herzschlag oder Atmung mit technischen Hilfsmitteln zu überwachen. Ist das realistisch?
Es gibt gute Ansätze, aber ohne medizinisches Personal, das die Daten auch deuten und im Notfall eingreifen kann, macht das in der Praxis nicht so viel Sinn.
In Spaichingen kam ein Mann in einer Zelle wohl deshalb um, weil er betrunken von einer Liege stürzte. Gibt es Vorgaben für solche Liegen?
Richtig hohe Liegen werden heute eigentlich nicht mehr genutzt. Das gab es, als ich 1994 in der Rechtsmedizin anfing. Doch eigentlich dachte ich, das gäbe es so nicht mehr. Solche Liegen bergen erhebliche Risiken. Wenn Betrunkene stürzen, können sie ohne Reaktion auf den Boden fallen. Deswegen ist es heute eigentlich Standard, betrunkene Menschen in Gewahrsamszellen auf eine Bodenliege zu betten.