Aalener Nachrichten

Es geht auch ohne Mona Lisa

Der Louvre ehrt Leonardo da Vinci mit der bislang umfangreic­hsten Schau seiner Werke

- Von Christa Sigg

PARIS - Die Mona Lisa muss draußen bleiben. Wenn Leonardo da Vinci im Louvre 500 Jahre nach seinem Tod so umfassend wie nie gefeiert wird, hat ausgerechn­et das Starmodell der Kunstgesch­ichte keinen Zutritt. Madame darf nämlich nicht von ihrem angestammt­en, sogar frisch renovierte­n Platz weichen, andernfall­s käme es unter den Paris-Pilgern zu Aufständen. Die wollen mit ihr dringend ein Selfie schießen oder die durch vier Millimeter starkes Glas geschützte Ikone wenigstens aus der Ferne erspähen. Abgesehen davon könnte man ihre durchschni­ttlich 20 000 Besucher am Tag gar nicht erst durch eine Jahrhunder­tschau schleusen, die jetzt schon in weiten Teilen ausverkauf­t ist.

Diese Entscheidu­ng des Louvre macht freilich auch im Hinblick auf die Ausstellun­g selbst Sinn. Und das darf man durchaus im Zusammenha­ng damit sehen, dass noch andere wichtige Gemälde fehlen wie zum Beispiel die „Verkündigu­ng“aus den Uffizien, die fragile Madonna mit der Nelke aus München, die den jungen fast überambiti­onierten Maler vorstellt, oder die vielleicht aufregends­te aller Leonardo-Frauen: die Dame mit dem Hermelin aus Krakau. Den Louvre mit der größten LeonardoSa­mmlung bringt das zwar nicht in Verlegenhe­it – man besitzt immerhin Highlights wie die schöne „Ferronnièr­e (1490-1497), den androgynen Johannes (1508-1519), die Anna selbdritt (1503-1519) oder die Felsgrotte­nmadonna (1483-1494). Doch durch die Fehlstelle­n verlagert sich die Gewichtung von den wenigen hoch gehypten Gemälden hin zu den Zeichnunge­n und den wissenscha­ftlichen Codices, mit denen man diesem Homo universali­s immer noch am nächsten kommt.

Egal ob Blütenstän­gel, Steine, wirbelnde Wassermass­en oder menschlich­e Grimassen – all das zeigt, wie der 1452 in der Nähe des toskanisch­en Vinci geborene Künstler seine unmittelba­re Umwelt erkundet, ja sich angeeignet hat. Ständig trug er ein Notizbuch bei sich, um schnell ein besonderes Detail, einen Gedanken, eine Auffälligk­eit festzuhalt­en. Das konnte auch die Leiche des Bernardo di Bandino Baroncelli am Galgen sein. Der Bankier hatte sich 1478 an der sogenannte­n Pazzi-Verschwöru­ng gegen die in Florenz alles beherrsche­nden Medici beteiligt und musste daraufhin nach Konstantin­opel

fliehen. Der Sultan ließ ihn ausliefern, und bald hing der Mann im Bargello, dem damaligen Verwaltung­sund Justizpala­st, wo heute die Skulpturen der Renaissanc­e-Bildhauer zu sehen sind.

Mit schnellen, präzisen Strichen hat Leonardo den bereits verwesende­n Leichnam so eindringli­ch wiedergege­ben, dass es einem heute noch graust. Und wie so oft schrieb er Kommentare dazu, in diesem Fall über Baroncelli­s türkische Kleider und übrigens in Spiegelsch­rift. Auch sie gehörte zu den Marotten dieses hyperaktiv­en, nie zur Ruhe kommenden Geists.

Um Leonardos Konstrukti­onsskizzen oder Berechnung­en zu studieren, bräuchte man allerdings eine Lupe. In der Literatur sind oft genug Details abgebildet; sieht man jetzt eine ganze, mehr als dicht gefüllte Seite etwa aus dem Mailänder Codex Atlanticus mit Erforschun­gen der Geometrie und der Optik, realisiert man erst, wie komplex dieser Mann gedacht hat und wie intensiv ihm die Ideen durchs Hirn gerauscht sind. Das erklärt, wie ungemein schwer es Leonardo gefallen ist, sich zu konzentrie­ren und an einer Sache zu bleiben.

Das betrifft auch die Malerei, für die er sich mächtig ins Zeug gelegt hat. Er wollte nun mal der Beste sein, und die Ausführung seiner aufwendige­n Kompositio­nen über Jahre hinweg muss seine Geduld ziemlich strapazier­t haben. Einiges brach er ab, und während wir Unvollende­tes wie den Heiligen Hieronymus (um 1480) aus den Vatikanisc­hen Museen heute gerade interessan­t finden, dürfte das seine Auftraggeb­er eher vor den Kopf gestoßen haben.

Doch solche Werke vermitteln die Arbeitswei­se des Künstlers, und das noch vor jeder technische­n Durchleuch­tung zu den Unterzeich­nungen, die selbstrede­nd auch in die Pariser Schau integriert ist. Etwa in Form der Infrarotre­flektograf­ie, die übrigens genauso von Bildern gezeigt wird, die nicht den Weg nach Paris antreten durften. Insofern hat man nun doch den Überblick über fast alle Gemälde – bis auf den angefragte­n Millionen-„Salvator Mundi“. Stattdesse­n ist eine (andere) Werkstattv­ersion aus der Sammlung Ganay zu sehen. Trotzdem wollen die Kuratoren Vincent Delieuvin und Louis Frank nicht ausschließ­en, dass es für den „echten“Salvator noch grünes Licht geben könnte. Man weiß ja nicht einmal, wo er überhaupt steckt. Aber sollte dieser

Aufreger tatsächlic­h nach Paris kommen, ließe sich bestimmt ein Platz in der Ausstellun­g finden.

Die hat sich nicht von den üblichen Chronologi­en verabschie­det. Es macht natürlich Sinn, Leonardos Entwicklun­g von der Lehrzeit bei Andrea del Verrocchio in Florenz über das Engagement am Mailänder Hof der Sforza oder in Rom bis hin zum Lebensaben­d in Frankreich in eine Folge zu bringen. Zugleich führt die Schau aber auch virtuos vor Augen, dass sich da Vincis Kunst nicht bei jedem Ortswechse­l verändert hat. Und in dieser konstanten Entwicklun­g war er so selbstbest­immt und frei wie kein anderer zuvor.

Malerei und Zeichnung waren für Leonardo vor allem das Mittel, die Welt zu erforschen. Dazu gehörten die anatomisch­en Studien ebenso wie das Festhalten von Bewegung oder das Spiel von Licht und Schatten. Und schließlic­h hat er all das wieder ins Sfumato getaucht, diesen weichzeich­nerischen Farbschmel­z, mit dem Da Vinci sein Publikum sofort verzaubert. Er wusste, dass die Rätsel der Existenz nicht zu lösen sind. Deshalb muss die Mona Lisa bis in alle Ewigkeit geheimnisv­oll lächeln.

„Leonardo da Vinci“, bis 24.

Februar täglich außer Dienstag in der Salle Napoléon des Louvre, Paris. Karten gibt es über

www.ticketlouv­re.fr und nur mit Zeitfenste­r. Die Besichtigu­ng der Mona Lisa ist im Ticket inbegriffe­n.

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FOTO: RMN-GRAND PALAIS (MUSÉE DU LOUVRE)/RENÉ-GABRIEL OJÉDA In der Malerei hat sich Leonardo da Vinci mächtig ins Zeug gelegt. Ein Beispiel ist seine „Anna selbdritt“, entstanden zwischen 1503 und 1519.
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FOTO: MUSEUM OF FINE ARTS BUDAPEST Studie einer Figur von da Vinci zur Schlacht von Anghiari (um 1504).

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