Bitte nicht ansprechen!
Das Smartphone zerstört die Fähigkeit zur spontanen Kommunikation
Die großen Änderungen der Zeit offenbaren sich oft in Zügen. So ist der Großraumwaggon, einst gefürchtet wegen des Geräuschpegels, heutzutage ein Raum der Stille. Wenn nicht gerade ein Old-School-Stammtisch auf Trinkreise oder ein hyperaktives Kleinkind für Stimmung sorgen, hat der dösende Fahrgast seine Ruhe. Der junge Mann auf dem Sitz nebenan klappt seinen Laptop auf, um an Excel-Tabellen zu arbeiten, andere Mitreisende stecken Knöpfe in die Ohren und lauschen diskreten Konzerten. Manche spielen digitales Schiffe-Versenken oder starren auf downgeloadete Actionserien. Keiner spricht mehr als das Nötigste („Kann ich mal durch?“) mit fremden Menschen. Das ist beängstigend.
Die siegreiche Technik trennt uns radikal voneinander. Sie hat der Aufmerksamkeit, der spontanen Neugier, den überraschenden Begegnungen den Garaus gemacht. Wozu braucht man noch die anderen, die zufälligen Statisten des Augenblicks? Wozu noch plaudern mit ungewissem Ausgang? Jeder von uns hat ja gegen die Langeweile sein kleines Fenster zur Wunschwelt dabei. Dieses kleine Gerät, das alles kann – unsere Fragen beantworten, unsere flüchtigen Briefe verschicken, den richtigen Weg finden, Bilder und Filme zeigen, uns lustig die Zeit vertreiben und vor allem: jederzeit die Verbindung herstellen zu allen, die gerade nicht anwesend sind.
Dabei wird mit dem Smartphone kaum noch herkömmlich telefoniert. Selbst die ins Handy gebellten Mitteilungen, die einem früher so auf die Nerven gingen, sind kaum noch zu hören: „Na Mausi, der Zug ist gerade in Darmstadt ... Esse gleich mein Käsebrot ... Wahrscheinlich 20 Minuten Verspätung ...“. Tja, davon kriegt man nichts mehr mit. Denn die für Mausi bestimmten Erkenntnisse werden der Einfachheit halber per WhatsApp oder SMS geschickt. Die allzeit mögliche Text- und Bild-Message hat uns völlig verstummen lassen.
Das Gruselige ist: Wir machen alle mit. Kein Schwein ruft mich an – und das ist mir ganz recht. Schließlich war es ehedem mit Telefonen nicht bequem. Man musste oft lange warten und sich durchfragen, ehe man überhaupt Anschluss bekam. Und umgekehrt: Wie nervös konnte einen das Klingeln des Telefons machen! Vor allem in der Zeit, als noch kein Display den Namen des Anrufers verriet. Wer war das jetzt? Mutti oder der Geliebte oder der böse Chef? Und wie oft kam der Anruf gerade zur falschen Zeit! Beim Kochen oder mitten im „Tatort“. Wie angenehm ist dagegen doch der digitale Chat: Man formuliert die Botschaft zu beliebiger Zeit, verziert sie vielleicht noch mit kindischen Emojis und ist sie los – ohne im Gespräch mit unberechenbaren Reaktionen umgehen zu müssen.
Das ferne Gegenüber nicht zu hören und selten zu sehen (Facetime ist ja gar nicht so beliebt), erspart manche Peinlichkeit und Verlegenheit in der Kommunikation. Das schützt vor Verunsicherung. Keineswegs nur im positiven Sinn, nebenbei gesagt. Auch das ungehemmte Verbreiten feindseliger Äußerungen in den Social Media hat mit der Abwesenheit des Gegenübers zu tun, mit der sicheren Distanz, die es so leicht macht. Deshalb wollen wir nicht mehr darauf verzichten. Das Smartphone in der Hand ist wie ein allmächtiges kleines Schutzschild, das den anderen sagt: Lasst mich bloß in Ruhe!
Manchmal, wenn ich in der Straßenbahn um mich blicke, fühle ich mich wie in einem Science-Fiction aus dem vorigen Jahrhundert: Eine Gesellschaft, betäubt von einer perfiden Unterhaltungselektronik, die zugleich eine Bewachungselektronik ist, hat jede Wahrnehmung für die umgebende Realität verloren. Bis auf einen sehr alten Herrn, der sich auf seinen Rollator stützt, starren alle auf ihre kleinen Bildschirme. Guckt mal einer zum Fenster raus, hat er wahrscheinlich sein Handy vergessen. Ganz selten sieht man geistige Widerstandskämpfer, die in einer Zeitung blättern oder gar ein Buch lesen.
Auch im Café, wo einst das Betrachten der anderen ein beliebter Zeitvertreib war, sind Gäste ohne Plapperpartner so vertieft in ihr Display, dass sie nicht einmal mehr der Kellnerin bei der Bestellung in die Augen sehen. Da stimmt was nicht mit unserem Verhalten, deshalb muss man es einfach mal anders machen. Neulich fasste ich Mut und empfahl einer Dame, die sich schräg gegenüber von mir hingesetzt hatte und ratlos in der Speisekarte blätterte, die Schinkenstulle des Tages: „Sehr lecker.“Sie guckte mich äußerst skeptisch, fast erschrocken an, als wäre ich ein lästiger Stullenvertreter oder schlimmer, eine Schwindlerin.
Dann erklärte sie schnell, dass sie Vegetarierin sei, und umklammerte dabei die Henkel ihrer Handtasche.
Das Plaudern mit Fremden ohne besondere Absichten wird in unserer schönen neuen Welt nicht mehr für möglich gehalten. Wird Zeit, es wieder zu pflegen. Noch am selben Tag sprach ich eine junge Frau an, die mit ihrem Rollköfferchen an der U-Bahn-Haltestelle stand, sich ratlos umsah und offenbar vergeblich mithilfe ihres Handys die Richtung suchte. „Kann ich Ihnen weiterhelfen“, fragte ich wie in den versunkenen Zeiten, als man sich gegenseitig noch den Weg zeigte. „Ach, wissen Sie, wo die Steinstraße ist? Und welchen Ausgang ich benutzen muss?“Ja, ich wusste es. Die Steinstraße war direkt über uns, und beide Ausgänge führen zum Ziel.
Die junge Frau hielt mich nicht für eine Schwindlerin. Sie bedankte sich herzlich, folgte mir zur Rolltreppe, wir wünschten uns gegenseitig noch einen schönen Tag – und ich schwöre, wir gingen beide mit einem Lächeln unseres Wegs. Kein digitales Smiley war nötig. Und wenn wir auch der Technik unrettbar verfallen sind, so sollten wir doch viel öfter die Verbindung zur realen Umgebung aufnehmen. Demnächst im Großraumwaggon üben wir das mal.