Altmeister auf Abruf
So will es der neue VW Golf noch einmal allen zeigen – Elektro-Version fliegt aus dem Programm
Rund 35 Millionen in 45 Jahren und sieben Generationen – kein Auto ist bei VW so wichtig wie der Golf. Entsprechend groß war die Aufmerksamkeit, als die Niedersachsen am Donnerstagabend in Wolfsburg das Tuch von der Nummer 8 gezogen haben. Nachdem er auf der Internationalen AutomobilAusstellung in Frankfurt seinem elektrischen Enkel ID3 den Vortritt gelassen hatte, will der deutsche Meister jetzt zur Titelverteidigung durchstarten. Schon im Dezember soll er zu Preisen knapp unter 20 000 Euro in den Handel kommen.
Allerdings fährt der neue Golf diesmal in einer schweren Zeit vor. Nicht nur, dass VW selbst mit dem ID3 den internen Wettstreit zwischen alter und neuer Welt befeuert. Bis die elektrische Revolution so richtig an Tempo gewinnt, graben ihm auch noch die immer zahlreicheren SUV das Wasser ab. So könnte der Millionenseller zu einem Altmeister auf Abruf werden, für den viele schon bei der Neuvorstellung einen Nachruf schreiben.
„Aber halt!“, schallt es da aus Wolfsburg, und die VW-Manager rücken das Weltbild wieder ein bisschen zurecht. Denn auch wenn man es ihm von außen kaum ansieht und die Form genau wie das Format nur mäßig modifiziert wurden, vollführt der neue Golf einen riesigen Sprung: Maximale Vernetzung und die weitgehende Digitalisierung des Innenraums machen ihn zum modernsten Vertreter in der langen Ahnenreihe.
Sensitive Oberflächen
Das erschließt sich auf Anhieb bei der ersten Sitzprobe. Denn die analogen Anzeigen hinter dem Lenkrad sind einem großen Display gewichen, das – ähnlich wie beim Touareg am anderen Ende der Modellpalette – mit einem noch größeren Touchscreen daneben verschmilzt. Dazu gibt es eine pfiffige Sensorleiste unter dem Bildschirm und – statt der üblichen Tasten und Schalter – fast überall nur noch sensitive Oberflächen. Selbst das Licht aktiviert man nun mit einem Fingerzeig, und zumindest bei den Automatik-Varianten verkommt der Gangwahlhebel zu einem winzigen Schaltstummel.
Wie es sich für den Geist der neuen Zeit gehört, ist der Golf dabei permanent online und vernetzt sich nicht nur mit dem World Wide Web und dem Smartphone, das auf Wunsch auch als Schlüssel fungiert. Sondern zum ersten Mal haben die Niedersachsen den Sprachassistenten
Alexa integriert, sie bieten Updates „over the air“an, und vor allem setzen sie ebenfalls erstmals im großen Stil auf Car-To-X-Kommunikation. Dabei verbindet sich der Golf automatisch mit seiner unmittelbaren Umgebung und macht sich so zum Beispiel die Sensoren der vorausfahrenden Autos für eine Art Frühwarnsystem zunutze. Die Idee dazu existiert schon lange, aber umgesetzt hat sie mangels Masse noch keiner, weil es bislang weder einen Industriestandard noch ausreichend große Flotten gibt. Doch bei dem noch immer rekordverdächtig hohen Absatz ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich im Umfeld eines neuen Golfs bald ein weiterer Golf Acht finden wird, der dann zum Späher taugt.
Zwar predigt VW lauter als die Konkurrenz die Segnungen der Elektromobilität und investiert dafür so viel wie sonst wohl niemand. Doch beweist die Premiere des Golf zugleich, dass sie in Wolfsburg die Verbrenner noch nicht zum Alteisen sortiert haben. Schließlich sind acht Motoren neu oder maßgeblich weiterentwickelt worden und stoßen deshalb nicht nur weniger Schadstoffe und Partikel aus, sondern versprechen zudem bis zu 17 Prozent weniger Spritverbrauch.
Natürlich wird es ein bisschen dauern, bis das ganze PS-Portfolio ausgerollt ist. Doch mittelfristig reicht die Palette von 90 bis 300 PS. Erhältlich sind dann die klassischen Benziner – vom Dreizylinder mit 1,0 Litern Hubraum bis zum 2,0-LiterVierzylinder – und zwei 2,0-LiterDiesel mit 115 und 150 PS und dem neuen Twindosing-Verfahren im Kampf gegen die Stickoxide. Alle sind mit Turbo und Direkteinspritzung ausgestattet. Auch eine ErdgasVersion, drei Mild- und zwei PluginHybride werden verfügbar sein. Nur die Elektro-Version ist mit Rücksicht auf den ID3 aus dem Programm genommen worden.
Die letzte große Reise
Wird das reichen, um den Golf weiter auf dem Thron zu halten? Das könnte schwer werden, glaubt Stefan Bratzel von der Hochschule der Wirtschaft in Bergisch-Gladbach. Für ihn vollführt VW mit der nahezu zeitgleichen Premiere von Golf und ID3 einen diffizilen Spagat zwischen alter und neuer Automobilwelt. Das dürfte nicht ohne Konsequenzen bleiben, ist er überzeugt: „Während mit dem ID3 gerade lautstark ein neues Zeitalter bei Volkswagen eingeleitet wurde, dürfte der Dauerbrenner Golf dagegen in dieser Form wohl auf seine letzte große Reise gehen.“