Im Kampfjet über Oberschwaben
Die Alarmrotte der Luftwaffe in Neuburg an der Donau überwacht den süddeutschen Luftraum – Ein Selbstversuch im Simulator zeigt, was die Piloten leisten
- Dass der Kampfjet vom Typ Eurofighter sich so leicht fliegen lässt, erstaunt den Reporter, der noch nie einen Steuerknüppel bedient hat. Tempo, Höhe, Kurs: Das Flugzeug reagiert sofort auf die Befehle. Im Hintergrund sorgt ein Computer dafür, dass Manöver, die den Jet in seine Einzelteile zerlegen würden, erst gar nicht ausgeführt werden. In Überschallgeschwindigkeit donnert der Eurofighter über Oberschwaben hinweg: „Jetzt würden Sie Ihre Landsleute ordentlich ärgern“, schmunzelt Oberstleutnant Swen Jacob, „und jetzt müssen Sie aufpassen, dass Sie nicht die Spitze des Ulmer Münsters abrasieren.“So weit kommt es nicht: Denn der Eurofighter-Flug findet nicht in einem der millionenteuren Kampfjets statt, sondern in einem Flugsimulator, den das Taktische Luftwaffengeschwader 74 in Neuburg an der Donau betreibt.
Der Test im Simulator beweist: Der Eurofighter lässt sich selbst für den Anfänger leicht steuern. Oberstleutnant Jacob erläutert: „Das Flugzeug muss sich deswegen leicht handhaben lassen, damit der Pilot sich auf seinen eigentlichen Auftrag konzentrieren kann, er soll den Luftkampf beherrschen.“Und schon taucht am Horizont ein anderes Flugzeug auf, das es zu bekämpfen gilt. Der Pilot des Eurofighters – oder stellvertretend der Reporter – muss versuchen, hinter dem anderen Jet zu fliegen, um aus der Bordkanone feuern zu können. Fliegen, feuern, auf andere Maschinen achten, die eigene Technik im Blick behalten: Als der eigene Eurofighter auf dem simulierten Flugfeld sicher landet und ausrollt, ist der Reporter schweißgebadet und weiß: „Die Eindrücke im Flugsimulator verschaffen ein erstes Verständnis, mehr nicht.“
Doch dieser Selbstversuch ist hilfreich, um den Job von Oberstleutnant Jacob ein bisschen besser zu verstehen. Wenn die Sirene Alarm gibt, bleiben ihm und seinem Kameraden, nennen wir ihn Mike, genau 15 Minuten: Dann müssen sie mit ihren beiden aufmunitionierten Kampfflugzeugen vom Typ Eurofighter in der Luft sein, um über Süddeutschland nach dem Rechten zu sehen: Ist ein Flugzeug entführt worden? Ist der Pilot plötzlich erkrankt? Oder warum sonst ist der Funkkontakt abgebrochen? Ob nachts aus dem Tiefschlaf geweckt, tagsüber im Büro oder im Hörsaal alarmiert, am Wochenende, bei Schneefall oder brütender Hitze: Es bleiben 15 Minuten, in denen die beiden Jetpiloten in voller Montur und Ausrüstung zu ihren Arbeitsplätzen sprinten, über die Leiter in die Cockpits klettern, sich anschnallen, die Triebwerke starten und zusätzlich die Systeme prüfen – und das alles fast zeitgleich. Rund um die Einsitzer, die in einem Schutzbau auf dem Fliegerhorst Neuburg stehen, bereiten die Techniker den Start vor. Und dann heben Jacob und Mike ab: Innerhalb von weiteren 15 Minuten sind sie über jedem Ort in Süddeutschland.
Jacob und sein Flügelmann Mike, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, gehören zum Taktischen Luftwaffengeschwader 74 der Luftwaffe, das rund 1000 Soldaten umfasst. Im bayerischen Neuburg an der Donau sind 30 bis 40 Eurofighter stationiert. Jede Viertelstunde startet eine der Maschinen – im Schnitt. Beim Start von zwei oder gar drei Jets dröhnt es selbst im Tower, die Anspannung der Fluglotsen und der stets präsenten Feuerwehrleute ist deutlich auf ihren Gesichtern ablesbar. Das Geschwader stellt nicht nur die Alarmrotte für den süddeutschen Luftraum. Bei Bedarf werden auch Flugzeuge und Personal zur NatoEingreiftruppe oder in andere Auslandseinsätze
entsandet. Auch bei der Überwachung des baltischen Luftraums engagiert sich der Verband. Für den norddeutschen Luftraum zeichnet das Taktische Luftwaffengeschwader 71 „Richthofen“im ostfriesischen Wittmund verantwortlich.
Mit den beiden Tag und Nacht einsatzbereiten Eurofightern der Alarmrotte erfüllen die Neuburger einen hoheitlichen Auftrag: Wer am Himmel über Deutschland unterwegs ist, muss sich bei der Flugsicherung anmelden, mit den Lotsen in Kontakt bleiben, die Regeln der Behörden befolgen. Befolgt ein Pilot diese Order nicht, kommt die Luftwaffe zum Einsatz. „Pro Jahr muss die Alarmrotte mindestens ein Dutzend Mal aufsteigen, weil ein Flugzeug keinen Funkverkehr hat“, erläutert Oberstleutnant Jacob, der gleichzeitig der Kommandeur der Fliegenden Gruppe des Geschwaders ist. Immer wenn ein Flugzeug in einen der 80 Sektoren des deutschen Luftraums einfliegt, muss es die Funkfrequenz wechseln. Tut es das nicht, und kann nicht mehr erreicht werden, wird routinemäßig eine Alarmrotte aus zwei Eurofightern alarmiert, die sich in der Luft ein Bild von der Lage macht. Die Piloten sollen die Flugzeuge im Sichtkontakt identifizieren und mit der Crew per Handzeichen Kontakt aufnehmen. „Beim Blick ins Cockpit kann man eventuell auch schon sehen, ob es sich um eine Entführung handelt.“Dass tatsächlich ein Notfall vorliege, sei aber die Ausnahme. In der Regel sei ein Bedienfehler der Besatzung Grund für die Funkstille.
Doch nicht immer bleibt es bei harmlosen Fehlern. Im Januar 2003 schickte der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) die Alarmrotte aus Neuburg nach Frankfurt am Main, weil dort ein verwirrter Student mit einem gekaperten Motorsegler über der Innenstadt kreiste und zunächst nicht klar war, ob er seine Drohung wahr macht und gegen ein Hochhaus fliegt. Innerhalb von 16 Minuten hatten die Jagdflugzeuge den Motorsegler erreicht und die Piloten Sichtkontakt mit dem Studenten aufgenommen. Schnell galt es als gesichert, dass der Mann kaum einen dramatischen Schaden anrichten konnte. Der „Geisterflieger“gab schließlich auf.
Die Stadt Frankfurt wie auch Struck kamen mit einem Schrecken davon. Später sagte der SPD-Politiker, hätte er je den Befehl zum Abschuss einer Zivilmaschine geben müssen, wäre er danach als Minister zurückgetreten.
Für den Fall eines geplanten terroristischen Angriffs gibt es keine festgelegten Einsatzregeln.
Das Übungsszenario sieht vor, dass die Kampfjet-Piloten die abgefangenen Flugzeuge im Sichtkontakt zum Folgen auffordern und sie zum Flugplatz begleiten. Oder sie zwingen sie zur Landung. Falls der Entführer dem nicht folgt? Es gibt Befehlsketten, an deren Ende derzeit Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) steht. Swen Jacob sagt: „Bei uns gilt das Prinzip von Befehl und Gehorsam. Und wenn der Minister oder die Ministerin in letzter Konsequenz den Befehl geben muss, dann ist das ein Befehl. Allerdings ist der auch auf Rechtmäßigkeit zu prüfen, auch beim schnellen Fliegen in der Luft.“Und er fügt hinzu: „Die Piloten, die einen solchen Befehl ausführen müssten, täten das in dem Wissen der Verantwortung für 82,5 Millionen Deutsche.“
Die Piloten sitzen in diesem Fall in der Zwickmühle: Denn die Bundeswehr darf in extremen Ausnahmefällen
zur Abwehr einer unmittelbar drohenden Katastrophe zwar auch im Inland das Feuer eröffnen – aber keine Passagierflugzeuge mit Unschuldigen an Bord abschießen. Das hatte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 entschieden. Außerdem schreibt Karlsruhe vor, dass auch in Eilfällen immer die gesamte Bundesregierung kollektiv entscheiden muss (Az. 2 PBvU 1/11).
Und falls der Pilot keinen Befehl bekommt, weder zum Abschuss noch zum Abdrehen? „Dann entscheidet letztendlich das Gewissen, wir setzen auf den im Sinne des Auftrages selbstständig denkenden und handelnden Soldaten“sagt Swen Jacob, „ wir haben solche Fälle immer wieder auch unter ethisch-moralischen Gesichtspunkten diskutiert.“Gerade nach dem TVFilm „Terror – Ihr Urteil“, der auf Ferdinand von Schirachs Theaterstück beruht, war diese Diskussion im Jahr 2016 auch in der Bevölkerung geführt worden: Der fiktive Bundeswehrsoldat, der eine Passagiermaschine mit 164 Menschen an Bord abschoss, um 70 000 Leute in einem Fußballstadion zu retten, war nach Meinung von 86,9 Prozent der TV-Zuschauer unschuldig. Nur 13,1 Prozent hielten ihn für schuldig.
Vor dem Einsatz stehen Hunderte Flugstunden, in denen die Piloten üben, üben, üben. „Häufig sind wir über Oberschwaben unterwegs“, erklärt Oberstleutnant Jacob, „denn dort fliegen wir abseits der großen Flugstraßen, auch gibt es wenig anderen zivilen Luftverkehr.“Diese Luftwege führen von München nach Frankfurt und von München nach Zürich: „Und dazwischen ist für uns gerade genug Platz.“Insgesamt sind die 35 Piloten des Geschwaders 3700 Stunden pro Jahr in der Luft, der „Spitzenreiter“bringt es auf 200 Flugstunden. Über dem etwa 120 mal 80 Kilometer großen Gebiet können die Soldaten in 12 000 Metern Höhe Luftkämpfe üben, sie können in Formation fliegen oder auch die Luftbetankung trainieren: „Alle zwei Wochen kommt ein Tankflugzeug vom Typ A 400 M“, erklärt Jacob, „nach dem Tanken geht es dann weiter.“Die Piloten sind gehalten, nicht unnötig, oder wenn, dann in einer Höhe von über 13 Kilometern in Überschallgeschwindigkeit zu fliegen, auch um die Lärmbelastung zu minimieren: „Und wenn’s doch knallt, ist das in etwa so laut wie ein Martinshorn der Feuerwehr, je nach Wetter und Luftdruck.“
Jacob räumt ein, dass auch in seinem Geschwader unter den Piloten gelegentlich Unmut über zu wenige Flugstunden, zu späte Ausbildung und zu wenige einsatzbereite Flugzeuge aufkommt. Zu Medienberichten, dass pro Jahr etwa zehn Piloten den Job bei der Bundeswehr kündigen, will die Luftwaffe nicht Stellung nehmen. „Ja, die Wartezeit für Piloten, die aus der Grundschulung auf Strahlflugzeugen kommen, kann frustrierend sein“, sagt Jacob, „wenn es schnell geht, müssen sie nur drei Monate warten, bis sie auf dem Eurofighter geschult werden.“Hinzu kommen Wartezeiten für die Lehrgänge, beispielsweise „Überlebenstraining“am Ausbildungszentrum Spezielle Operationen in Pfullendorf. Sieben bis acht Jahre dauert es, bis ein Eurofighter-Pilot der Alarmrotte zugeteilt wird, acht Millionen Euro kostet die Ausbildung.
Zwar stehen auf dem Fliegerhorst zwei Eurofighter-Flugsimulatoren, mit denen sich Kosten, Lärm und Umweltbelastung reduzieren lassen – das modernere der beiden Geräte kann sogar Flugstunden in der Maschine ersetzen, wenn es beispielsweise um die für den Erhalt der Pilotenlizenz erforderlichen Stunden geht. „Aber der Simulator kann eben nicht alles simulieren“, schränkt Oberst Thomas Früh ein, der bis Ende September als Kommodore die Verantwortung für das Geschwader trug, „die Steilkurve mit Gravitationskräften von bis zu 9 G, den Schweiß und auch den Respekt vor der Maschine erlebt man nur in der Luft.“
Doch warum bekommt das Luftwaffengeschwader nicht mehr Flugzeuge in die Luft? Die Gründe sind vielfältig: Nach 400 Flugstunden muss der Eurofighter für mehrere Monate in die Inspektion in der Industrie. In dieser Zeit fehlt das Flugzeug im Trainings- und Einsatzbetrieb. Schneller kann die Industrie nicht arbeiten, denn Instandsetzungskapazitäten wurden massiv abgebaut, Mechaniker wurden entlassen. Und es fehlt an Ersatzteilen, die neu produziert werden müssen und nur nach langer Wartezeit lieferbar sind: „Das ist immer noch eine Folge der Finanzkrise 2008 und 2009, als die Bundeswehr massiv sparen musste“, sagt Oberst Früh. Hinzu kommt: Es sind noch nicht alle der 140 bestellten Maschinen an die Luftwaffe ausgeliefert. Die Folgen dieser Mängelliste: Im März 2018 waren nur 39 der 128 Jets einsatzbereit, wie es im Bericht zur materiellen Einsatzbereitschaft hieß.
Doch auch bei der Luftwaffe gilt: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“Früh hofft, dass die Trendwende Material, von der damaligen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verkündet, jetzt wirklich greift. Unter Fachleuten gilt dies aber als offen. Der Oberst selbst arbeitet derweil schon in Paris und wirkt am „Future Combat Air System“(FCAS) mit. Dahinter steckt die Entwicklung eines neuen europäischen Kampfjets, ein Flugsystem der sechsten Generation, das aus bemannten und unbemannten Flugzeugen bestehen soll.
„Pro Jahr muss die Alarmrotte mindestens ein Dutzend Mal aufsteigen, weil ein Flugzeug keinen Funkverkehr hat.“
Oberstleutnant Swen Jacob