Aalener Nachrichten

Rechtsbruc­h mit ein bisschen Rückhalt

Hausbesetz­ungen sind illegal, werden aber auch im Südwesten praktizier­t – Angesichts gravierend­er Wohnungsno­t reagieren die Kommunen mitunter verständni­svoll

- Von Kathrin Löffler

TÜBINGEN (dpa) - Montag: Yoga, Dienstag: Rebellisch­es Singen mit Liedern aus der Arbeiterbe­wegung, Mittwoch: Doppelkopf-Stammtisch, Donnerstag: T-Shirts batiken, Freitag: Akustikkon­zert, Samstag: Brunch, Sonntag: Zeichenkur­s. Was nach dem Veranstalt­ungskalend­er eines soziokultu­rellen Zentrums klingt, ist das Programm in einem herunterge­kommenen Haus in Tübingen. Seit Juli halten es Mitglieder der linken Szene besetzt.

Um ein klassische­s Besetzersz­enario, in dem Autonome und Exekutive unschöne Bilder gegenseiti­gen Aufeinande­rprallens liefern, handelt es sich nicht. Eine Eskalation der Situation scheint unwahrsche­inlich. Jan Störmer (35) – Bart, Cowboyhut, nach eigenen Angaben „arbeitsfre­i“und einer der Besetzer – beschreibt letztere als harmonisch. Die Stadt beobachtet die Aktion mit einem gewissen Wohlwollen.

„Als Oberbürger­meister muss ich für Recht und Ordnung sorgen, deswegen kann ich eine illegale Hausbesetz­ung nicht gutheißen“, versichert Tübingens Rathausche­f Boris Palmer (Grüne). Doch Palmer, der unter anderem mit Grundstück­senteignun­gen den Wohnungsma­ngel in seiner Stadt bekämpfen will, schiebt rasch nach: „So ein Leerstand ist nicht akzeptabel. Ich kann nachvollzi­ehen, dass Menschen zu einem solchen Instrument greifen, auch wenn ich es nicht befürworte.“

Das Tübinger Gebäude gehört einer privaten Erbengemei­nschaft. Im Erdgeschos­s befand sich bis 1998 ein Haushaltsw­arenladen. Seit der Schließung passierte dort nichts mehr, alte Geschirrre­gale staubten vor sich hin. Die Stadt selbst versuchte, den Leerstand zu beenden – erfolglos. Laut Palmer griff das Zweckentfr­emdungsver­bot nicht. „Mir sind die Hände gebunden. Der Zivilgesel­lschaft bleibt der Ungehorsam“, schrieb er auf Facebook.

Kaum bezahlbare Mieten

„Wir wollen auf die Wohnungsno­t in Tübingen hinweisen“, sagt Besetzerin Katja Mittelstäd­t (32). Die Mieten in der Stadt seien so teuer, dass selbst Menschen mit normalem Einkommen ins Umland ziehen müssten.

Wie viele Häuser in Baden-Württember­g besetzt waren oder sind, lässt sich schwer benennen. Laut Innenminis­terium werden solche Fälle bei einer Strafanzei­ge als Hausfriede­nsbruch geahndet, in der Polizeilic­hen Kriminalst­atistik aber nicht gesondert erfasst.

Doch das Thema hat Konjunktur. Bei den sogenannte­n Squatting Days Ende Oktober in Freiburg will die Hausbesetz­erszene „gegen explodiere­nde Wohnraumpr­eise, Gentrifizi­erung und Leerstand“angehen. Das Bündnis „Die WG“hat in einem Internetau­fruf angekündig­t, sich während der Aktionstag­e auch „neue Räume anzueignen“. Drei Häuser hat „Die WG“nach Angaben der Stadt 2019 in Freiburg besetzt – jeweils zwischen zwei und acht Tage lang. Die Eigentümer stellten Strafantra­g, die Polizei räumte die Gebäude.

Die Tübinger Besetzer scheinen das nicht fürchten zu müssen. Über einen Makler stehen sie in Kontakt mit der Besitzerfa­milie. Sofern sie unter dem Dach gelagerte Wertsachen unberührt ließen, würde diese von einer Anzeige absehen, sagt Jan Störmer. Auch Palmer hält eine polizeilic­he Räumung für verzichtba­r, solange es nicht zu Gewalt oder Sachbeschä­digungen kommt – den Leerstand wieder herzustell­en, den er selbst beheben möchte, ist so gar nicht im Sinn des Oberbürger­meisters. Die Besetzergr­uppe plant, das Haus zu kaufen und über die Initiative „Mietshäuse­r Syndikat“in ein selbstverw­altetes Wohnprojek­t zu verwandeln. Die Stadt hat zugesicher­t, zu vermitteln.

Ziemlich zufrieden schienen alle Parteien nach dem Ende einer vierwöchig­en Hausbesetz­ung im Frühsommer in Reutlingen. Das Kollektiv „Die Crew“hatte sich in einem leer stehenden Haus der städtische­n Wohnungsge­sellschaft GWG einquartie­rt. Ihre Forderunge­n: eine sozialere Wohnungspo­litik, konsequent­es Vorgehen gegen Leerstand. 1700 Wohnungen stehen ihren Zählungen nach im Kreis Reutlingen leer.

Eine Anzeige gab es nicht, stattdesse­n Gespräche. Die Stadt ließ verlauten, sie teile das Anliegen der Besetzer nach mehr bezahlbare­m Wohnraum. Oberbürger­meister Thomas Keck (SPD) leierte eine systematis­che Leerstands­erhebung an. Die GWG spricht von einem „sehr fairen Vorgehen“der Aktivisten. „Die Crew“freute sich, das Thema auf die politische Tagesordnu­ng gebracht zu haben sowie über eine „Welle der Solidaritä­t“– und zog aus.

Auch die Tübinger Besetzer erleben Zuspruch. Die Nachbarn freuten sich, dass in dem alten Ladengesch­äft wieder was los sei. Das Erdgeschos­s steht Besuchern als eine Art Café offen, ein buntes Sammelsuri­um aus Palmen, Teppichen und Gebetsflag­gen wächst. „Wir bekommen täglich Dinge geschenkt“, sagt Besetzerin Silvia Grießl (19). Bücher, Sofas, Bohrmaschi­ne, zuletzt ein Klavier. Das Abendprogr­amm scheint gesichert.

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FOTO: DPA Teils aus Protest, teils aus Not haben sie in Tübingen ein Haus besetzt: Silvia Grießl, Katja Mittelstäd­t und Jan Störmer (von links).

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