Aalener Nachrichten

Plötzlich Favoritin

Die Harvard-Juristin und Wall-Street-Kritikerin Elizabeth Warren hat gute Chancen, für die Demokraten gegen Donald Trump anzutreten

- Von Frank Herrmann

ROCK HILL - Es ist so heiß, dass die Leute Regenschir­me aufspannen, um sich vor der Sonne zu schützen. Frühherbst in South Carolina, doch die schwüle Hitze drückt wie im Hochsommer. Elizabeth Warren scheint das nichts auszumache­n. Sie federt förmlich die Treppe zur Bühne hinauf, sie wirkt so fit, dass man nicht glauben kann, dass sie 70 Jahre alt ist. Dann folgt sie dem ungeschrie­benen Gesetz amerikanis­cher Wahlkämpfe, nach dem man, um einen Draht zu den Wählern zu finden, gute Geschichte­n erzählen muss. Möglichst persönlich­e Geschichte­n. Wenn sie von Höhen und Tiefen handeln, von Krisen und Neuerfindu­ng – umso besser.

Warren erzählt also aus ihrem Leben. Von ihrem Vater, der mal Zäune, mal Teppiche verkaufte und obendrein Hausmeiste­r war, bevor er eine Herzattack­e erlitt und nicht mehr arbeiten konnte. Von der Mutter, die sich dahin immer nur um ihre vier Kinder gekümmert hatte, nun aber, im Alter von fünfzig Jahren, Geld verdienen musste, um das Eigenheim in Oklahoma City vor der Zwangsvers­teigerung zu bewahren. Pauline Herring zog sich ihr bestes Kleid an, ging zum Personalge­spräch bei der Kaufhauske­tte Sears, bekam einen Job und den staatlich garantiert­en Mindestloh­n. Mit dem Lohn, sagt ihre Tochter, konnte sie ihr Haus retten und eine Familie über die Runden bringen. Heute dagegen reiche ein Vollzeitjo­b zum staatlich garantiert­en Mindestloh­n nicht einmal aus, um einer Mutter mit Kind die Armut zu ersparen. „Das ist falsch, und deshalb mache ich mit bei diesem Rennen.“

Karriere an Jura-Fakultäten

Oder die verschlung­enen Wege zu ihrem College-Abschluss. Mit 19 brach Elizabeth Herring ihr mit Vollstipen­dium finanziert­es Studium an einer Universitä­t in Washington ab, weil sie Jim Warren heiratete, ihren Freund aus High-School-Zeiten, und mit ihm nach Houston zog. Dort nahm sie ein zweites Mal Anlauf, an einer Uni, deren Studiengeb­ühren (15 Dollar pro Semester) sie sich leisten konnte, zumal sie nebenbei kellnerte.

Liz Warren wurde Lehrerin, später studierte sie Jura, unterricht­ete Rechtswiss­enschaften. Ihre Karriere führte über Universitä­ten in Texas und Pennsylvan­ia bis nach Harvard, auf die Spitze der amerikanis­chen Bildungspy­ramide.

Warum sie das alles so ausführlic­h schildere? Weil ihr Leben zeige, dass es in Amerika auch schon mal andere Zeiten gab. Zeiten, in denen man mit einem Mindestloh­n ein Haus retten und für einen eher symbolisch­en Betrag studieren konnte, beides undenkbar im Jahr 2019. Der Kontrast zwischen damals und heute, sagt Warren, lasse sich auf Anhieb erklären, wenn man nur darüber nachdenke, für wen die Regierung arbeite. Für Großuntern­ehmen oder für die kleinen Leute? Sie, Elizabeth Warren, sei angetreten, um endlich zu korrigiere­n, was seit den Achtzigerj­ahren schiefgela­ufen sei. „Seid ihr bereit für einen großen Strukturwa­ndel?“

Strukturwa­ndel als Markenzeic­hen

„Are you ready for big structural change?“– die Frage darf auf keiner Kundgebung fehlen. So sperrig sie klingen mag, sie ist zu ihrem Markenzeic­hen geworden, so wie einst das „Yes, we can“bei Barack Obama oder das „Make America great again“bei Donald Trump. Sie passt zum Image einer Politikeri­n, von der es heißt, dass sie Sentimenta­les ebenso wenig mag wie diffuse Rhetorik, sondern konkret wird mit einer Fülle von Plänen. Und das Phänomen ist: Die ehemalige HarvardPro­fessorin löst, wo immer sie auftritt, einen enormen Ansturm aus. Die Senatorin aus Massachuse­tts, dem Neuengland­staat, bei dem man in der Mitte des Landes schnell an eine von oben belehrende Bildungsun­d Politikeli­te denkt, scheint einen Nerv zu treffen. Auch in Rock Hill, South Carolina.

In Rock Hill lässt sich auf den ersten Blick erkennen, wie populär Warren mittlerwei­le ist. Einen Monat vor ihr redete Joe Biden, parteiinte­rn ihr großer Rivale, dort am Clinton College. Die Versammelt­en passten alle in die Basketball­halle. Im Falle Warrens dagegen erweist sich die klimageküh­lte Halle als viel zu klein, sodass die Veranstalt­ung kurzerhand ins Freie verlegt werden muss, trotz der sengenden Sonne. Schon jetzt liegt die Senatorin in den Umfragen gleichauf mit Biden. Gut möglich, dass der Konkurrent weiter Federn lässt, weil die Ukraineaff­äre, die Donald Trump in ein Amtsentheb­ungsverfah­ren stürzt, auch ihm schaden kann. Noch verkneift sich Warren jede Kritik an ihm, was im Moment für die Demokraten zählt, ist die Solidaritä­t gegen Trump. Doch am Ende könnte sie von dem Kapitel profitiere­n. Und da ihr zweiter großer Rivale, der linke Senator Bernie Sanders, nach einem Herzinfark­t kürzertret­en muss, findet sie sich auf einmal in der Favoritenr­olle wieder.

Früher Republikan­erin

Während sich Sanders als demokratis­cher Sozialist definiert, versteht sich Warren als Anhängerin des Kapitalism­us, betont aber zugleich die Notwendigk­eit gründliche­r Reformen. „Ich bin Kapitalist­in, ich glaube an die Märkte“, sagte sie einmal in einem Fernsehint­erview. „Woran ich nicht glaube, ist Diebstahl. Woran ich nicht glaube, sind Trickserei­en.“

Bis 1996 war sie Republikan­erin. Damals wurde sie in eine Expertenko­mmission berufen, die im Auftrag des Weißen Hauses Vorschläge für eine Reform des Insolvenzr­echts machen sollte. Während sie dafür plädierte, Privatpers­onen nach einer Pleite stärker entgegenzu­kommen, wollten die konservati­ven Mitglieder des Kreises nichts davon wissen. Als die Kommission ihre Arbeit beendete, war Warren ins Lager der Demokraten gewechselt. Zuvor hatte sie ausdauernd in Gerichtssä­len gesessen, in denen Bankrottfä­lle verhandelt wurden. Wenn jemand in die Zahlungsun­fähigkeit rutschte, lernte die Juristin, dann meistens nicht, weil er mit Geld nicht umgehen konnte. Meist waren es der Verlust eines Arbeitspla­tzes, eine Scheidung, ein schwerer Autounfall oder eine Krankheit, deren Behandlung­en sämtliche Ersparniss­e auffraß, die zur Insolvenz führten, und zwar viel häufiger, als es noch zwei Dekaden zuvor der Fall gewesen war. Nicht die Leute seien schuld, schlussfol­gerte Warren. Schuld sei ein Fehler im System.

Vor der Finanzkris­e 2008 warnte sie vor hochriskan­ten SubprimeHy­potheken, die Hauskäufer tatsächlic­h bald in den Ruin trieben und die Immobilien­preisblase platzen ließen. Nach dem Crash holte sie Präsident Obama in die Regierung, um sie die Gründung einer neuen Verbrauche­rschutzbeh­örde vorbereite­n zu lassen. Einer Behörde, die Finanzprod­ukte unter die Lupe nehmen sollte. Leiten durfte sie das Consumer Financial Protection Bureau jedoch nicht. Einer derart scharfen Kritikerin der Wall Street, hatten konservati­ve Senatoren signalisie­rt, würden sie die nötige Bestätigun­g verweigern. 2012 kandidiert­e sie für einen Sitz im US-Senat, wurde gewählt und avancierte zur neuen Hoffnungst­rägerin der Progressiv­en. 2016 verzichtet­e sie, obwohl ihre Fans sie massiv dazu drängten, auf eine Bewerbung fürs Oval Office. An ihrer Stelle wurde Sanders zur Lichtgesta­lt der Linken. Nun erhebt sie, wenn man so will, Anspruch auf ihre frühere Rolle – mit der Losung vom „big structural change“als Erkennungs­zeichen.

Einfluss des Geldes zurückdrän­gen

Eine Präsidenti­n Warren, erklärt sie in Rock Hill, würde die Drehtür schließen, durch die Wall-StreetBank­iers in die Politik wechseln oder Politiker zu den Wall-StreetBank­en. Überhaupt würde sie alles tun, um den Einfluss des Geldes auf die Politik zurückzudr­ängen, denn der schade der Demokratie. Sie würde Monopole zerschlage­n, Giganten wie Amazon, Google oder Facebook zurechtstu­tzen. Schließlic­h würde sie die reichsten Amerikaner mit einer Vermögenss­teuer zur Kasse bitten, damit gebührenfr­eie Hochschule­n, kostenlose Kindergärt­en und eine Rentenerhö­hung um monatlich 200 Dollar für jeden finanziert werden können: Big structural change.

Nach ihrem Plan sollen Haushalte, deren Vermögen 50 Millionen Dollar überschrei­tet, zwei Prozent Steuer zusätzlich zahlen. Ob das genügt, um die vielen Milliarden an Mehrausgab­en zu decken? Ob am Ende die Abgaben nicht auch für Normalverd­iener steigen müssen? Nicht nur ihre Widersache­r, sondern auch skeptische Parteifreu­nde stellen solche Fragen.

Überzeugen­de Antworten gibt sie an diesem Tag nicht, zunächst geht es ihr darum, gegen ein Zerrbild anzureden. Gegen die Karikatur der neidischen, verbissene­n Umverteile­rin, die reichen Menschen ihren Reichtum nicht gönnt. „Noch mal zum Mitschreib­en“, sagt Elizabeth Warren, wer fünfzig Millionen besitze, für den ändere sich nichts. Erst ab dem ersten Dollar jenseits der 50Millione­n-Marke werde es teurer. Es folgt ein breites Lächeln, dann die Pointe. „Ach, ich sehe schon, wie einige Leute jetzt sagen, nun ja, mit dieser Frau kann ich leben.“

 ?? FOTO: DPA ?? Elizabeth Warren, demokratis­che Kandidatin für die Präsidents­chaftswahl in den USA, wirbt für eine stärkere Besteuerun­g reicher US-Bürger – um so gebührenfr­eie Hochschule­n, kostenlose Kindergärt­en und eine Rentenerhö­hung zu finanziere­n.
FOTO: DPA Elizabeth Warren, demokratis­che Kandidatin für die Präsidents­chaftswahl in den USA, wirbt für eine stärkere Besteuerun­g reicher US-Bürger – um so gebührenfr­eie Hochschule­n, kostenlose Kindergärt­en und eine Rentenerhö­hung zu finanziere­n.

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