Inflationsziel in weiter Ferne
Führungswechsel bei der EZB – Welches Erbe Christine Lagarde erwartet
BERLIN - In einer schwierigen Lage übernimmt Christine Lagarde ihr neues Amt als Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB). Gerade jetzt, zum offiziellen Start Lagardes am 1. November, muss die Notenbank drängende Fragen beantworten. Macht sie die richtige Geldpolitik? In der Wirtschaftswissenschaft läuft inzwischen eine Debatte, ob das Inflationsziel, ein zentraler Baustein der EZB-Politik, noch angemessen erscheint.
Viele Fachleute haben Zweifel – beispielsweise Roland Döhrn vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen. Der Ökonom hält es für erwägenswert, dass „die Notenbank Abweichungen vom Inflationsziel nach unten hinnimmt. Das gäbe ihr die Möglichkeit, auf das neue Anleihekaufprogramm zu verzichten.“
Seit Jahren regen sich viele Bürger über die Geldpolitik der Zentralbank auf. Diese machen sie dafür verantwortlich, dass ihr Erspartes keine Zinsen mehr bringt. Denn lange Zeit schon liegt der Zinssatz der Zentralbank bei null. Mittels seines Kaufprogramms hat der scheidende Bankchef Mario Draghi Hunderte Milliarden Euro in die Wirtschaft gepumpt. Viele Bürger fürchten, dass die Geldbombe irgendwann explodiert, eine gigantische Krise auslöst und ihr Eigentum vernichtet.
Gewisse Inflation sei nötig
Draghi selbst sieht das anders. Er will einfach erreichen, dass die Geldentwertung auf „nahe zwei Prozent“steigt. Denn eine gewisse Inflation sei nötig, damit es der Wirtschaft und damit auch den Arbeitnehmern gut gehe. Allerdings erreicht die EZB dieses Ziel nicht – egal, welche Hebel sie umlegt. Aktuell liegt die Inflationsrate des Euroraums nur bei 0,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Vielleicht hastet die Notenbank also einem Ziel hinterher, das schwerer oder augenblicklich gar nicht mehr zu erreichen ist? Dann bräuchte es die Geldschwemme nicht, und die Zinsen könnten mal wieder steigen.
Die Debatte der Wirtschaftsforscher dreht sich deshalb auch darum, was mit der Inflation los ist. Liegt sie möglicherweise dauerhaft niedrig, wodurch das EZB-Ziel von zwei Prozent veraltet wäre?
Ein wichtiger Gedanke in dieser Diskussion: Der globale Handel im Internet führt dazu, dass viele Waren billiger werden. Wenn man zum Beispiel für 9,99 Euro ein Monats-Abo bei einer Musik-Streaming-Plattform bucht, kann man sich Millionen Songs anhören. Schallplatten oder CDs zu kaufen, war früher sehr oft teurer. Ähnliches gilt für den Kauf von Kleidung und anderen Konsumgütern, die Internetshops und Plattformen wie Amazon anbieten.
„Dank des Internets können Hersteller den Zwischenhandel ausschalten und ihre Produkte oder Dienstleistungen direkt an die Endkunden verkaufen“, sagt Ökonom Döhrn. „Das mag weltweit preissenkende Effekte auslösen, die das Inflationsziel der EZB von knapp zwei Prozent infrage stellen.“
Diese Argumentation stehe allerdings noch auf wackeligen Füßen, räumt Döhrn ein. Denn der Effekt, dass die Wettbewerbsintensität der Internetwirtschaft die Verbraucherpreise dämpft, lässt sich nur schwer nachweisen. Gerade aus dieser Unsicherheit entwickelt Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel sein Argument. „Warum sollte die EZB an ihrem Inflationsziel festhalten, obwohl der Mechanismus schwer zu erklären ist, und sie es trotz jahrelanger Versuche nicht erreicht?“
Mehr Flexibilität gefordert
Kooths plädiert dafür, die Zentralbank solle das „scharfe Inflationsziel von nahe zwei Prozent“durch eine „Bandbreite von beispielsweise null bis zwei Prozent“ersetzen. Das gäbe der Geldpolitik mehr Flexibilität und ermöglichte den Verzicht auf das Anleihekaufprogramm.
Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim hält eine vermeintliche niedrigere Inflation infolge der Internetwirtschaft dagegen für „kein stichhaltiges Argument“. Im Vergleich zu früheren Produktivitätsschüben etwa in den 1960er-Jahren sei der Effekt heute zu gering. „Die EZB sollte ihr Ziel beibehalten“, sagt Heinemann also. „Eine Inflation von um die zwei Prozent ist wirtschaftspolitisch nützlich.“
Trotzdem übt der Forscher Kritik an dem Anleihekaufprogramm, das die Zentralbank in diesem November erneut aufnehmen will. Für Heinemann liegt das Vorhaben zu nahe bei der verbotenen Staatsfinanzierung – schließlich kauft die EZB viele Schuldscheine, die die Euro-Staaten ausgegeben haben. Der neuen EZB-Chefin Christine Lagarde rät Heinemann deshalb, eher Aktien von Privatunternehmen zu erwerben, als Anleihen von Regierungen.
Vorläufig wird Lagarde wohl nichts an dem geplanten Programm ändern. Doch der Druck auf die EZB – auch durch Diskussionen der Fachwelt – könnte künftig zunehmen.