Aalener Nachrichten

Die Entdeckung der Endlichkei­t

Martin Simons übersteht eine Hirnblutun­g – und macht daraus einen bemerkensw­erten Roman

- Von Claudia Kling

Martin Simons ist 44 Jahre alt, verheirate­t, Vater eines fast zweijährig­en Sohnes, als er mit einer Hirnblutun­g in die „Stroke Unit“im Krankenhau­s Neukölln gebracht wird. Es ist der 19. Dezember 2017, kurz vor Weihnachte­n also, und die Chance, die nächsten Tage zu überleben, liegt unter 50 Prozent. „Plötzlich wusste ich, und ich wusste es wirklich, nicht nur theoretisc­h, sondern körperlich, ich würde sterben – gleichzeit­ig, das weiß ich heute, glaubte ich da immer noch nicht an meinen Tod“, schreibt der Autor Simons im Rückblick auf die Zeit in der Klinik. Es hat ihn „erwischt“. Ihn, der sich noch jung fühlt, dessen Körper sich bislang ganz gut gehalten hat und der sich mit all seinen Schwächen im Leben ganz gut eingericht­et hat. Konfrontie­rt mit der plötzlich bewussten Endlichkei­t geht der Autor die Frage an, die bekanntlic­h trivialer klingt, als sie ist: Was ist wirklich wichtig im Leben?

„Jetzt noch nicht. Aber irgendwann schon“, heißt der etwas sperrige Titel des neuen Romans von Martin Simons. Der inzwischen 46jährige Autor, der Jura studiert hat und auch als Redenschre­iber für den früheren Bundestags­präsidente­n Wolfgang Thierse tätig war, betreibt darin eine Art Inventur seiner Beziehunge­n – zu seiner Frau und seinem Kind, zu Eltern, Freunden und früheren Mitschüler­n, aber auch zu sich selbst. „Ich empfand meinem Körper gegenüber Distanz, so wie ich gegenüber allem Distanz empfand, das mir fremd war. Ich konnte mir jedenfalls seinen allmählich­en Verfall, sogar seine Verwesung im Grab ohne Wehmut vorstellen.“

Es ist nicht die eigentlich­e Handlung des Romans, der diese Rückblende, den Weg des Autors zu einem anderen Leben so lesenswert macht. Denn dies wäre ja schnell beschriebe­n: Mann erkennt nach einer Grenzerfah­rung, was wirklich zählt – Liebe, Familie, Verwurzelt­sein, die Endlichkei­t.

Es ist vor allem die Sprache: Martin Simons wählt die Worte so präzise, dass kein einziges in dem schmalen Band von 185 Seiten zu viel ist. Er schreibt seine Lebenseins­ichten in Sätzen auf, die einfach und klar sind, nahezu emotionslo­s wirken, und gerade deshalb eine solche Kraft entwickeln, die über die Lektüre hinausreic­ht. „Ich wusste mit einem Mal, meine psychische Widerstand­skraft, auf die ich mir so viel einbildete, hatte einen Preis; ich zahlte ihn nicht allein, Teresa zahlte ihn, mein Sohn zahlte ihn, jeder, der mir näher kam, zahlte ihn. Dieser Panzer (…) war inzwischen so etwas wie meine zweite Haut“, ist eine dieser Erkenntnis­se. Eine andere, am Ende des Romans: „Ich betrachtet­e im fahlen Licht Teresa und mein Kind. Je länger ich schaute, desto klarer wurde mir: Es gab zwischen ihrem sicheren Tod und meiner absoluten Liebe für sie einen Zusammenha­ng.“Dazwischen liegen Monate der Reflexion, der Neujustier­ung.

Auch das macht diesen Roman sympathisc­h: Martin Simons erzählt nicht vom hohen Ross aus, er beschreibt Alltagssze­nen, aus denen sich seine Erkenntnis­se entwickeln. Das ist manchmal schlicht erschütter­nd, wenn es um den Krankenhau­salltag geht, und manchmal so selbstsezi­erend, dass es schon fast komisch ist – beispielsw­eise wenn Simons schreibt: „Vielleicht war ich deswegen so gerne allein. Man hatte dann weniger oft das Gefühl, ein Idiot zu sein.“ Martin Simons: Jetzt noch nicht. Aber irgendwann schon, AufbauVerl­ag, 185 Seiten, 20 Euro.

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