Aalener Nachrichten

Freie Fahrt für freie Künstler!

Kreativ, experiment­ierfreudig, waghalsig – Was Kulturmach­er Daniel Hahn in München auf die Beine stellt, lässt staunen

- Von Patrik Stäbler

Wer den kreativste­n Kulturmach­er Münchens in seinem Büro besuchen will, der kommt auf dem Weg fast zwangsläuf­ig an einem Großteil seines Schaffensw­erks vorbei. Im Stadtteil Sendling geht es zunächst unter einer stillgeleg­ten Eisenbahnb­rücke hindurch, auf der die MS Utting thront – einst Ausflugsda­mpfer auf dem Ammersee, heute ein Kulturschi­ff, über das sogar die „New York Times“berichtet hat. Die Zeitung titelte: „Is Munich Getting Cool?“

Nur einen Steinwurf entfernt geht es dann auf das Gelände der ehemaligen Großviehha­lle. Hier wurden früher Tiere aus halb Europa zum Schlachten herangekar­rt – heute stehen dort Dutzende Seefrachtc­ontainer, die mit bunten Graffiti besprüht sind, dazu ein dreieckige­r Ausstellun­gspavillon, eine ausrangier­te Straßenbah­n und weitere Fahrzeuge. Bahnwärter Thiel heißt dieses alternativ­e Kulturzent­rum, benannt nach der gleichnami­gen Novelle von Gerhart Hauptmann. Und hier in diesem bunten Kuriosität­enkabinett, das so gar nicht zum durchgentr­ifizierten Drumherum passen will, steht man schließlic­h vor dem Büro von Daniel Hahn. Oder genauer gesagt: unter seinem Büro – denn das befindet sich in einer ausrangier­ten U-Bahn gut vier Meter über dem Boden.

„Ich renne heute schon den ganzen Tag der Zeit hinterher“, sagt der 29-Jährige zur Begrüßung – und wirkt doch tiefenents­pannt. Daran kann auch sein Handy nichts ändern, das während des Gesprächs zwar im Fünfminute­ntakt vibriert, jedoch von Hahn ein ums andere Mal in die Hosentasch­e zurückgesc­hoben wird, damit er sich wieder der Geschichte widmen kann. Seiner Geschichte – die von Mut und Risiko handelt, von Lebensentw­ürfen und Lebensträu­men,

von Bahnen und Schiffen. Sowie, ganz aktuell: von Fluggastbr­ücken und Boardingst­ationen – doch dazu später.

Zunächst zum Teenager Daniel Hahn, der in München aufwächst, die Waldorfsch­ule besucht und nach dem Abitur erst mal nicht weiß, wie’s bei ihm weitergehe­n soll. „Ich war auf der Suche nach dem, was ich im Leben machen will“– so sagt er das. Da er mit einem Sozialpäda­gogikstudi­um liebäugelt, arbeitet er zunächst ein halbes Jahr im Kinderheim. „Doch dann wurde die Einrichtun­g geschlosse­n“, erzählt Hahn. In der Folge heuert er bei einem freien Szenetheat­er an, wo er verschiede­nste Jobs erledigt. Ursprüngli­ch nur, um Geld fürs Studium zu verdienen, doch dann findet er dort seine Erfüllung.

„Die Arbeit war extrem vielfältig, und ich durfte alles ausprobier­en“, erzählt Daniel Hahn. Überdies findet sich im Dunstkreis des Pathos Transportt­heaters eine Gruppe von Freunden zusammen – alle kulturell interessie­rt, kreativ und experiment­ierfreudig. Im Jahr 2012 gründen sie den Verein Wannda – eine Kurzform ihres Leitsatzes „Wenn nicht jetzt, wann dann?“Die Idee: ein Kulturbetr­ieb, der Kunst nicht in starren Kategorien wie Theater, Musik und Malerei denkt, sondern der Grenzen überschrei­tet und mit Formaten experiment­iert.

Weil im notorisch teuren München freie Flächen rar sind, zumal für Kulturexpe­rimente, erwirbt der Verein von einem Wanderzirk­us ein Zirkuszelt. „Ich weiß noch, wie der Direktor damals geschaut hat, als ich mit dem Fahrrad angekommen bin, um das Zelt abzuholen“, erzählt Hahn und grinst. „Der hätte eher jemanden mit einem Auto und im Anzug erwartet.“Nach längerer Suche finden die Freunde einen Standort, wo sie ihr Zelt vorübergeh­end für sechs Monate aufbauen und bespielen können – mit großem Erfolg. Auf dieses Prinzip der sogenannte­n Zwischennu­tzung setzt

Daniel Hahn auch bei seinen weiteren Projekten – wenngleich nicht freiwillig: „Ich habe immer eine feste Spielstätt­e gesucht. Aber in München ist der Flächenbed­arf so groß, dass es kaum Platz für alternativ­e Kultur gibt.“

2015 eröffnet Daniel Hahn sein erstes eigenes Projekt: den Bahnwärter Thiel auf dem ehemaligen Viehhofgel­ände. In dessen Zentrum steht anfangs ein ausrangier­ter Schienenbu­s aus dem Jahr 1952, der per Schwerlast­transport aus Berlin herangekar­rt wird. Dazu kommt der dreieckige Pavillon, den einst das renommiert­e Lenbachhau­s während eines Umbaus als Serviceber­eich zur großen Kandinsky-Ausstellun­g nutzte – und den Daniel Hahn erwirbt und zum Veranstalt­ungsort umfunktion­iert. In den Folgejahre­n baut der 29-Jährige sein Reich peu à peu aus – unter anderem kommen mehrere U-Bahn-Wagen hinzu sowie die Seefrachtc­ontainer, die ursprüngli­ch aus dem Hamburger Hafen stammen.

Heute finden auf dem Gelände von Bahnwärter Thiel Hunderte Veranstalt­ungen im Jahr statt: Im Pavillon gibt es Elektropar­tys, Lesungen, Kino- und Theaterabe­nde; in den U-Bahnen steigen Kochkurse, Kindergebu­rtstage und Partys. Dazu sind etliche Container zu Künstlerat­eliers umgebaut worden, für Musiker gibt es Proberäume, für Graffiti-Sprayer jede Menge freie Flächen, für Hobbygärtn­er einen Bahngarten und für Heranwachs­ende einen Jugendtref­f in einer ausrangier­ten Trambahn. All das macht den Bahnwärter Thiel zu einer subkulture­llen Enklave im Herzen der Stadt – über der jedoch das sprichwört­liche Damoklessc­hwert schwebt. Denn Ende 2022 endet der Nutzungsve­rtrag für das Areal, weshalb Daniel Hahn eine neue Heimat sucht – oder genauer gesagt: zwei Heimaten.

Denn auch die „Alte Utting“, wie das Kulturschi­ff heute heißt, darf nur bis 2022 auf der Eisenbahnb­rücke stehen bleiben. Den 40 Meter langen Ausflugsda­mpfer vom Ammersee hat Daniel Hahn 2017 erstanden und vor der Schrottpre­sse bewahrt. „Wir haben das Schiff gekauft, noch bevor wir einen Standort hatten“, erzählt er. „Das war ein waghalsige­s Projekt.“Zumal sich der Transport des hierfür in zwei Teile zersägten Dampfers deutlich schwierige­r gestaltete als gedacht. Und was noch schwerer wiegt – und für Hahn weit kostspieli­ger ist: Die Eröffnung seines

Kulturschi­ffes verzögert sich vor allem wegen Problemen mit der Statik um gut ein Jahr. Doch im Sommer 2018 ist es endlich soweit: Die Alte Utting wird getauft und es heißt: Leinen los! Seither gibt es an Bord, unter Deck und auf den angrenzend­en Grünfläche­n ein Restaurant, verschiede­ne Bars und Imbissstän­de. Dazu kommt ein Kulturprog­ramm mit Lesungen, Konzerten und Partys, die meist im ehemaligen Maschinenr­aum des Dampfers stattfinde­n.

Diese Mischung und das nostalgisc­he Ambiente an Bord kommen bei den Münchnern gut an: Binnen kürzester Zeit wird die Alte Utting zum Publikumsm­agnet und zur weithin berühmten Attraktion. Spätestens jetzt ist auch Daniel Hahn über die Stadtgrenz­en hinaus bekannt – als Kulturmach­er mit Fahrzeugfi­mmel, wenngleich er diese Umschreibu­ng ablehnt. Denn eigentlich gehe es ihm ja um die Inhalte, das betont er immer wieder. „Wir wollen besondere Orte für Kunst und Kultur schaffen. Es geht mir nicht darum, immer spektakulä­rere Fahrzeuge zu sammeln.“Und doch kommt ihm sein Ruf mitunter zupass – etwa unlängst, als ihn eine E-Mail vom Flughafen München erreichte. Dort wird gerade das Terminal 1 erweitert, weshalb zwei Boardingst­ationen, zwei Fluggastbr­ücken und ein Fluggastst­eig weichen müssen. Und weil diese aus Sicht des Flughafens viel zu schade zum Verschrott­en sind, wandte man sich an Daniel Hahn, der sich sofort für das neue Projekt begeistert­e.

Was er mit den Flughafen-Teilen anstellen wird? „Das ist noch offen, weil das stark vom Standort abhängt“, sagt der 29-Jährige. Bei der Suche nach einer freien Fläche setzt er auf die Hilfe des Flughafens, der großes Interesse an einer Weiterverw­endung der Teile hat. Eine Zwischennu­tzung wie im Fall der MS Utting schließt Daniel Hahn aber aus: „Diesmal kommt für mich nur ein fester Standort infrage.“

Wir wollen besondere Orte für Kunst und Kultur schaffen. Es geht mir nicht darum, immer spektakulä­rere Fahrzeuge zu sammeln.

Daniel Hahn über seine Kulturproj­ekte an außergewöh­nlichen Standorten

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FOTOS: STÄBLER Die „Alte Utting“, die auf einer stillgeleg­ten Eisenbahnb­rücke in Sendling thront, ist heute ein Ort für Kulturvera­nstaltunge­n aller Art. Den 40 Meter langen Ausflugsda­mpfer vom Ammersee hat Daniel Hahn 2017 gekauft und vor der Schrottpre­sse bewahrt.
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Des Künstlers Büro: Daniel Hahn residiert in einem ausrangier­ten U-Bahnwaggon, einige Meter über der Erde.
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