Freie Fahrt für freie Künstler!
Kreativ, experimentierfreudig, waghalsig – Was Kulturmacher Daniel Hahn in München auf die Beine stellt, lässt staunen
Wer den kreativsten Kulturmacher Münchens in seinem Büro besuchen will, der kommt auf dem Weg fast zwangsläufig an einem Großteil seines Schaffenswerks vorbei. Im Stadtteil Sendling geht es zunächst unter einer stillgelegten Eisenbahnbrücke hindurch, auf der die MS Utting thront – einst Ausflugsdampfer auf dem Ammersee, heute ein Kulturschiff, über das sogar die „New York Times“berichtet hat. Die Zeitung titelte: „Is Munich Getting Cool?“
Nur einen Steinwurf entfernt geht es dann auf das Gelände der ehemaligen Großviehhalle. Hier wurden früher Tiere aus halb Europa zum Schlachten herangekarrt – heute stehen dort Dutzende Seefrachtcontainer, die mit bunten Graffiti besprüht sind, dazu ein dreieckiger Ausstellungspavillon, eine ausrangierte Straßenbahn und weitere Fahrzeuge. Bahnwärter Thiel heißt dieses alternative Kulturzentrum, benannt nach der gleichnamigen Novelle von Gerhart Hauptmann. Und hier in diesem bunten Kuriositätenkabinett, das so gar nicht zum durchgentrifizierten Drumherum passen will, steht man schließlich vor dem Büro von Daniel Hahn. Oder genauer gesagt: unter seinem Büro – denn das befindet sich in einer ausrangierten U-Bahn gut vier Meter über dem Boden.
„Ich renne heute schon den ganzen Tag der Zeit hinterher“, sagt der 29-Jährige zur Begrüßung – und wirkt doch tiefenentspannt. Daran kann auch sein Handy nichts ändern, das während des Gesprächs zwar im Fünfminutentakt vibriert, jedoch von Hahn ein ums andere Mal in die Hosentasche zurückgeschoben wird, damit er sich wieder der Geschichte widmen kann. Seiner Geschichte – die von Mut und Risiko handelt, von Lebensentwürfen und Lebensträumen,
von Bahnen und Schiffen. Sowie, ganz aktuell: von Fluggastbrücken und Boardingstationen – doch dazu später.
Zunächst zum Teenager Daniel Hahn, der in München aufwächst, die Waldorfschule besucht und nach dem Abitur erst mal nicht weiß, wie’s bei ihm weitergehen soll. „Ich war auf der Suche nach dem, was ich im Leben machen will“– so sagt er das. Da er mit einem Sozialpädagogikstudium liebäugelt, arbeitet er zunächst ein halbes Jahr im Kinderheim. „Doch dann wurde die Einrichtung geschlossen“, erzählt Hahn. In der Folge heuert er bei einem freien Szenetheater an, wo er verschiedenste Jobs erledigt. Ursprünglich nur, um Geld fürs Studium zu verdienen, doch dann findet er dort seine Erfüllung.
„Die Arbeit war extrem vielfältig, und ich durfte alles ausprobieren“, erzählt Daniel Hahn. Überdies findet sich im Dunstkreis des Pathos Transporttheaters eine Gruppe von Freunden zusammen – alle kulturell interessiert, kreativ und experimentierfreudig. Im Jahr 2012 gründen sie den Verein Wannda – eine Kurzform ihres Leitsatzes „Wenn nicht jetzt, wann dann?“Die Idee: ein Kulturbetrieb, der Kunst nicht in starren Kategorien wie Theater, Musik und Malerei denkt, sondern der Grenzen überschreitet und mit Formaten experimentiert.
Weil im notorisch teuren München freie Flächen rar sind, zumal für Kulturexperimente, erwirbt der Verein von einem Wanderzirkus ein Zirkuszelt. „Ich weiß noch, wie der Direktor damals geschaut hat, als ich mit dem Fahrrad angekommen bin, um das Zelt abzuholen“, erzählt Hahn und grinst. „Der hätte eher jemanden mit einem Auto und im Anzug erwartet.“Nach längerer Suche finden die Freunde einen Standort, wo sie ihr Zelt vorübergehend für sechs Monate aufbauen und bespielen können – mit großem Erfolg. Auf dieses Prinzip der sogenannten Zwischennutzung setzt
Daniel Hahn auch bei seinen weiteren Projekten – wenngleich nicht freiwillig: „Ich habe immer eine feste Spielstätte gesucht. Aber in München ist der Flächenbedarf so groß, dass es kaum Platz für alternative Kultur gibt.“
2015 eröffnet Daniel Hahn sein erstes eigenes Projekt: den Bahnwärter Thiel auf dem ehemaligen Viehhofgelände. In dessen Zentrum steht anfangs ein ausrangierter Schienenbus aus dem Jahr 1952, der per Schwerlasttransport aus Berlin herangekarrt wird. Dazu kommt der dreieckige Pavillon, den einst das renommierte Lenbachhaus während eines Umbaus als Servicebereich zur großen Kandinsky-Ausstellung nutzte – und den Daniel Hahn erwirbt und zum Veranstaltungsort umfunktioniert. In den Folgejahren baut der 29-Jährige sein Reich peu à peu aus – unter anderem kommen mehrere U-Bahn-Wagen hinzu sowie die Seefrachtcontainer, die ursprünglich aus dem Hamburger Hafen stammen.
Heute finden auf dem Gelände von Bahnwärter Thiel Hunderte Veranstaltungen im Jahr statt: Im Pavillon gibt es Elektropartys, Lesungen, Kino- und Theaterabende; in den U-Bahnen steigen Kochkurse, Kindergeburtstage und Partys. Dazu sind etliche Container zu Künstlerateliers umgebaut worden, für Musiker gibt es Proberäume, für Graffiti-Sprayer jede Menge freie Flächen, für Hobbygärtner einen Bahngarten und für Heranwachsende einen Jugendtreff in einer ausrangierten Trambahn. All das macht den Bahnwärter Thiel zu einer subkulturellen Enklave im Herzen der Stadt – über der jedoch das sprichwörtliche Damoklesschwert schwebt. Denn Ende 2022 endet der Nutzungsvertrag für das Areal, weshalb Daniel Hahn eine neue Heimat sucht – oder genauer gesagt: zwei Heimaten.
Denn auch die „Alte Utting“, wie das Kulturschiff heute heißt, darf nur bis 2022 auf der Eisenbahnbrücke stehen bleiben. Den 40 Meter langen Ausflugsdampfer vom Ammersee hat Daniel Hahn 2017 erstanden und vor der Schrottpresse bewahrt. „Wir haben das Schiff gekauft, noch bevor wir einen Standort hatten“, erzählt er. „Das war ein waghalsiges Projekt.“Zumal sich der Transport des hierfür in zwei Teile zersägten Dampfers deutlich schwieriger gestaltete als gedacht. Und was noch schwerer wiegt – und für Hahn weit kostspieliger ist: Die Eröffnung seines
Kulturschiffes verzögert sich vor allem wegen Problemen mit der Statik um gut ein Jahr. Doch im Sommer 2018 ist es endlich soweit: Die Alte Utting wird getauft und es heißt: Leinen los! Seither gibt es an Bord, unter Deck und auf den angrenzenden Grünflächen ein Restaurant, verschiedene Bars und Imbissstände. Dazu kommt ein Kulturprogramm mit Lesungen, Konzerten und Partys, die meist im ehemaligen Maschinenraum des Dampfers stattfinden.
Diese Mischung und das nostalgische Ambiente an Bord kommen bei den Münchnern gut an: Binnen kürzester Zeit wird die Alte Utting zum Publikumsmagnet und zur weithin berühmten Attraktion. Spätestens jetzt ist auch Daniel Hahn über die Stadtgrenzen hinaus bekannt – als Kulturmacher mit Fahrzeugfimmel, wenngleich er diese Umschreibung ablehnt. Denn eigentlich gehe es ihm ja um die Inhalte, das betont er immer wieder. „Wir wollen besondere Orte für Kunst und Kultur schaffen. Es geht mir nicht darum, immer spektakulärere Fahrzeuge zu sammeln.“Und doch kommt ihm sein Ruf mitunter zupass – etwa unlängst, als ihn eine E-Mail vom Flughafen München erreichte. Dort wird gerade das Terminal 1 erweitert, weshalb zwei Boardingstationen, zwei Fluggastbrücken und ein Fluggaststeig weichen müssen. Und weil diese aus Sicht des Flughafens viel zu schade zum Verschrotten sind, wandte man sich an Daniel Hahn, der sich sofort für das neue Projekt begeisterte.
Was er mit den Flughafen-Teilen anstellen wird? „Das ist noch offen, weil das stark vom Standort abhängt“, sagt der 29-Jährige. Bei der Suche nach einer freien Fläche setzt er auf die Hilfe des Flughafens, der großes Interesse an einer Weiterverwendung der Teile hat. Eine Zwischennutzung wie im Fall der MS Utting schließt Daniel Hahn aber aus: „Diesmal kommt für mich nur ein fester Standort infrage.“
Wir wollen besondere Orte für Kunst und Kultur schaffen. Es geht mir nicht darum, immer spektakulärere Fahrzeuge zu sammeln.
Daniel Hahn über seine Kulturprojekte an außergewöhnlichen Standorten