Bauernopfer
Wie die Gesellschaft mit ihren Ansprüchen die Landwirtschaft überfordert
Kühe marschieren im Gleichschritt. In einer Fabrik, die die Form einer Tafel Schokolade hat, stehen die Tiere in Reih und Glied. An ihren Eutern hängen metallene Melkbecher. „Jedes Leben ist wertvoll, und Kühe sind keine Melkmaschinen – auch nicht für Schokolade“, erläutert eine Sprecherin mit belegter Stimme den Trickfilm. Der Spot macht Reklame für eine vegane Schokolade – und hat viele Milchbauern erschüttert und wütend gemacht. Es ist dieselbe Erschütterung, die die Firma Katjes bei ihren Kunden auslösen will, um den Absatz von Naschwerk anzukurbeln.
Die kurze Werbung des Süßwarenunternehmens aus Emmerich am Rhein zeigt in wenigen Sekunden, wie weit sich Bauern und Verbraucher voneinander entfernt haben. Auf der einen Seite die Landwirte, die sich angesichts der Bilder pauschal als Tierquäler verunglimpft fühlen. Und auf der anderen Seite die Kunden eines Nahrungsmittelunternehmens, die durch die Zurschaustellung von gnadenlos unterdrückten, militärisch gedrillten, seelenlosen Melkmaschinen zum Kauf bewogen werden sollen. Denn die beworbene Schokolade ist ja vegan – und damit nicht auf die – so das Narrativ von Katjes – ekelerregende Massentierhaltung angewiesen.
Es ist ein Riss, der sich durch die Gesellschaft zieht, ein Riss, der die Erzeuger von den Verbrauchern der Lebensmittel trennt – und der sich zumeist an der Grenze zwischen Stadt und Land entlangzieht. Viele Menschen, die in den urbanen Metropolregionen der westlichen Industrieländer leben, halten Bauern in der Regel für potenzielle Tiermörder und Giftverspritzer, die mit ihrer Wirtschaftsweise Natur und Umwelt irreparabel schädigen.
Ein Grund für die Kluft zwischen Ernährern und Ernährten sind die Ansichten über die Landwirtschaft, die sich im Zuge der Urbanisierung immer weiter von den tatsächlichen Gegebenheiten entfernt haben. Natürlich ist das Landleben, wie es in Zeitschriften wie der gleichnamigen dargestellt wird, en vogue. Die Hochglanzmagazine erzählen Geschichten von glücklichen Bauern, die im Einklang mit der Natur, den Jahreszeiten und der Tierwelt leben und arbeiten. Selbstvergessen, stolz, zufrieden. Städter setzen das Leben von Landwirten gleich mit dem Urlaub auf dem Bauernhof – der würzige Duft von Heu und die über Allgäuer Hügel stapfenden Kühe gehören da genauso dazu wie handgemolkene Milch, luftgetrockneter Schinken und frisch gebackenes Brot. Für Städter ist das Leben auf dem Land eine geruchsund keimfreie Idylle.
Die Realität sieht anders aus – und sie riecht in den seltensten Fällen nach Heu. Sie riecht nach Schweiß, nach Dreck, nach Gülle, nach Staub – und nach Blut. Nach Tierblut, nach dem Blut der geschlachteten Schweine, Rinder, Hühner und Kälber, die in den Küchen der Städte jeden Tag gebraten, gesotten und gegessen werden. In den idyllischen Vorstellungen über das romantische Bauernleben kommt niemals vor, wie es ist, wenn man an sieben Tagen in der Woche jeden Morgen und jeden Abend zum Melken raus muss, wenn man zu Ernte- oder Aussaatzeiten von morgens um 5 bis abends um 23 Uhr auf dem Schlepper sitzt oder der alljährliche Jahresurlaub sich auf vier Tage im November und drei Tage im März reduziert.
Menschen, die irgendwann in ihrem Leben schon einmal in sommerlicher Gluthitze Getreide in einem Silo verteilt, bei einer Schlachtung Blut gerührt oder Kuhställe gemistet haben, erahnen, wie sich das Leben eines Landwirts anfühlen kann, – und sie wissen, dass Kühe niemals lila sind, auch wenn die omnipräsente Werbung der Schokoladenmarke Milka das immer wieder glauben machen lässt.
Dazu kommt eine zweite, die ökonomische Realität. Klassische Bauernhöfe, die als Familienbetriebe geführt werden, haben um ihr wirtschaftliches Überleben zu kämpfen, sie werden aufgerieben zwischen dem Lebensmittelhandel einerseits, der – und das ist politisch gewollt – nach den Regeln des Weltmarkts funktioniert. Und den Forderungen von Verbrauchern, Politikern und Umweltschützern andererseits, die allesamt nach strengere Regeln im Tier- und Landschaftsschutz schreien.
Die Konsequenzen dieser Zwickmühle zwischen ökonomischem und moralischem Druck liegen auf der Hand: Die Bauern setzen auf die betriebswirtschaftliche Kostendegression und senken ihre Kosten pro Tier und pro Zentner Weizen, indem sie mehr Tiere halten und größere Flächen bewirtschaften. Doch das Wachstum hat seinen Preis, das Risiko, dass Tiere und Landschaft leiden, steigt. Und noch ein Risiko steigt: das Risiko, dass der Bauer im ökonomischen Hamsterrad der Mehrarbeit auf der Strecke bleibt. Die zunehmenden Fälle von Burn-out und Selbstmord bei Landwirten sprechen eine deutliche Sprache.
Auch im Zeitalter von modernen Maschinen, von GPS-gesteuerten Traktoren und modernen Melkanlagen ist der Job eines Bauern harte Arbeit. Es ist eine Knochenarbeit, es ist eine Arbeit, die nie nach 35 Wochenstunden und in den seltensten Fällen nach 70 Wochenstunden zu Ende ist. Und für diese
Arbeit vermissen Landwirte mehr und mehr die Anerkennung. Die Hochachtung vor ihrer Arbeit ist in der durchrationalisierten Welt des 21. Jahrhunderts verschwunden. „Die Bauern sind ein Berufszweig, der vom Bauernstolz lebt“, sagt der fränkische Landwirtschaftsfunktionär Hans Vetter. „Was wir aber in den vergangenen 20 Jahren erleben, ist die systematische Demontage des sozialen Status der Bauern.“Bei Julia Vees, der Präsidentin des Landfrauenverbandes WürttembergHohenzollern, klingt das anders. Auf der Oberschwabenschau in Ravensburg berichtete sie vor einigen Tagen von einem Gespräch mit einer alten Bäuerin. „Sie hat mir gesagt, die wollen uns nicht mehr, dann hören wir eben auf.“
Was bei aller Kritik am Bauernstand vergessen wird, ist, dass die moderne Landwirtschaft auch ein gewaltiger Erfolg ist: 1776 prophezeite der Ökonom Thomas Malthus, dass die Menschheit an Hunger zugrunde gehen werde, weil sich die Produktion von Lebensmitteln nicht in dem Maße steigern lasse, wie sich die Weltbevölkerung vermehre. Das war ein Trugschluss. Moderne Technik, verbesserte Anbaumethoden, chemische Pflanzenschutzmittel haben die Effizienz der Landwirtschaft in einem Maße gesteigert, wie es Malthus im Traum nicht eingefallen wäre. Im Jahr 1900 ernährte ein Bauer im Schnitt vier Menschen, heute versorgt er mehr als 145 Personen.
Und auch konventionell wirtschaftende Landwirte, die die von Katjes so propagandistisch kritisierte Massentierhaltung betreiben, sind in der Regel verantwortungsbewusste Tierhalter, denen das Leiden der Kreatur, die sie als Nutztier betrachten, ein Gräuel ist. Es gibt Bauern, die in Hallen von 1800 Quadratmetern Größe 5000 Putenhähne halten, dabei monatelang ohne Antibiotika auskommen und kaum tote Tiere zu verzeichnen haben, was Tierschutzorganisationen in ihrem Kampf gegen industrielle Tiermast so als schlichtweg unmöglich bezeichnen. Die Forderung nach einer grundsätzlichen Agrarwende, die komplett auf Massentierhaltung und den Einsatz von Pflanzenschutz und Dünger verzichtet, lässt zudem die Frage unbeantwortet, ob die ökologische Landwirtschaft genauso viele Menschen ernähren könnte, wie es die industrielle Landwirtschaft tut. „Ohne Dünger und Pflanzenschutz wäre es nicht möglich, so viele Menschen zu ernähren wie heute“, sagt Achim Wambach, der als Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung nicht gerade verdächtig ist, ein großer Bauernfreund zu sein.
Natürlich gibt es auch schwarze Schafe unter den Bauern, die aus Überforderung, Profitgier, fehlender Empathie oder auch krimineller Energie Tiere leiden lassen. Skandale wie in Bad Grönenbach im Allgäu, wo mehrere Milchviehbetriebe über Monate mit dem Wissen von zuständigen Behörden Tiere schmachvoll verrecken ließen, dürfen niemals vorkommen. Für solche Fälle ist eine strenge staatliche Kontrolle vonnöten, um die verbrecherischen Landwirte in die Schranken zu weisen und die verantwortungsbewussten zu schützen. Und auch im Ackerbau muss es Regeln geben, die den Einsatz von Dünger und Pflanzenschutz so reglementieren, dass Bodenqualität und die natürlichen Grundlagen für Flora und Fauna langfristig gesichert sind.
Doch dieser Umbau der Landwirtschaft, der die schädlichen Auswüchse der industriellen Landwirtschaft zurückdreht, aber trotzdem die Grundlagen für die Ernährung der Menschen sicherstellt, gelingt nicht gegen die Bauern, er gelingt nur mit ihnen. Eine Lösung könnte ein europäisches Subventionssystem sein, das artgerechte Tierhaltung und klimaschonenden Ackerbau honoriert –und nicht wie bisher nur die bewirtschaftete Fläche und die Betriebsgröße als Kriterium für die staatliche Förderung zugrunde legt. Denn allein werden die Bauern die Wende nicht finanzieren können.
Die fehlende gesellschaftliche Anerkennung werden Gelder aus Brüssel allerdings auch nicht aufwiegen können. An dieser Stelle sind nicht zuletzt die Verbraucher, die Kunden die Städter gefordert, die ihr Grillfleisch in der Kühltheke der Discounter kaufen – und dabei laut über die Bauern schimpfen und strengere Tierschutzgesetze fordern. Wenn diese Kritiker ihre unrealistischen Vorstellungen davon, wie Bauern überall in Deutschland und Europa auf ihren Höfen Weizen anbauen, Kühe melken, Schweine mästen, der Realität anpassen, würden sie automatisch mehr Verständnis für die Landwirte und ihre Arbeit aufbringen.
Und möglicherweise würde ein weiteres Problem gelöst werden, das Problem, dass Kinder von Landwirten sich in der Schule nicht mehr trauen zu sagen, was ihre Eltern beruflich machen. Denn mittlerweile ist die Berufsbezeichnung Bauer bei vielen Menschen zu einem Schimpfwort geworden.