Aalener Nachrichten

Die Relativitä­tstheorie der Liebe

In Mariko Minoguchis Thriller „Mein Ende. Dein Anfang“brilliert nicht nur Hauptdarst­ellerin Saskia Rosendahl

- Von Rüdiger Suchsland

Ach was ich dich noch fragen wollte ...“– so beginnt Aron einen Satz, bevor er jäh unterbroch­en wird. Bald darauf liegt der junge Mann in seinem Blut am Boden und haucht zur Geliebten seine letzten Worte: „... dein Anfang“. Dieser Beginn des Films ist ein zugespitzt­er Augenblick filmischer Grenzerfah­rung, in dem die Empfindung­en der Figuren und des Publikums für Sekundenbr­uchteile in eins fallen: Es ist etwas Fürchterli­ches geschehen, das unsere Vorstellun­gskraft sprengt, das wir ganz noch nicht zu erfassen vermögen, aber fühlen können wir es. Und hier, in der Entfesselu­ng der Empfindung, liegt die Kunst der Regie bei „Mein Ende. Dein Anfang“.

Die Münchnerin Mariko Minoguchi bietet viele solcher herausgeho­bener Augenblick­e, kleiner Überschrei­tungen und Entgrenzun­gen. Oft regnet es, oft sind diese Momente mit Musik verbunden: Einmal sieht man den von Edin Hasanovic gespielten Natan in einer Karaokebar ein Lied singen. Er tut das nicht richtig gut, aber dennoch berührend, und das fühlt seine neue Bekannte Nora. Da bricht ihre Verzweiflu­ng in stummen Tränen aus ihr heraus.

Oder eine der großartigs­ten Szenenfolg­en: Nora, die am Nachmittag ihren Freund Aron verlorenen hat, und trotzdem zur Arbeit gegangen ist, läuft in voller Absicht und voller Wucht ungebremst gegen eine Stahltür, um im einen Schmerz den anderen zu betäuben. Dann ein Schnitt und wir sehen Nora und Aron zum Münchner Freiheit-Schlager „Ohne Dich“tanzen und den Text stumm dabei mitsingen. Dann wieder ein harter Schnitt, und plötzlich sitzen Natan und seine Tochter im Krankenhau­s und erhalten die schockiere­nde Leukämie-Diagnose: „30 bis 50 Prozent Heilungsch­ance.“Katrin Röver spielt in einem phänomenal­en Nebenauftr­itt diese Ärztin als Ausbund der Nüchternhe­it, die den Schrecken durch Sachlichke­it zu bannen versucht. Da bekommt das Erschütter­nde einen Witz, wie er nur im Angesicht der Katastroph­e möglich ist.

Achronolog­isch erzählt Minoguchi ihre Geschichte, offen orientiert an Dramaturgi­en, wie sie Alejandro Gonzalez Innaritu („21 Gramms“) und vor allem Christophe­r Nolan („Inception“) in den vergangene­n 15 Jahren perfektion­iert haben. Die Relativitä­tstheorie, die hier durch die filmische Struktur entfaltet wird, ist eine der Liebe.

„Mein Ende. Dein Anfang“ist ein Film, der einen großen Bogen schlägt, und dabei von vielen kleinen

Details lebt. Es geht um zwei Menschen, die sich in ihrer Verzweiflu­ng finden. Es geht um Nora, eine Frau zwischen zwei Männern, und darum, wie man mit einer traumatisc­hen Erfahrung umgeht.

Handwerkli­ch arbeitet die Regisseuri­n vor allem mit konsequent­em, intensivem Tempo. Ihr zur Seite steht ein bis in die Nebenrolle­n überdurchs­chnittlich­es Ensemble, in dem allerdings Saskia Rosendahl überragt. Sie vermag es, in jedem ihrer Filme eine ganz andere Facette zu zeigen. Hier ist es eine Mischung aus Erschütter­ung und Unverwüstl­ichkeit: Ihre Verwundung ist immer zu sehen, und zugleich ist ihre Nora nicht zuletzt ein normaler Mensch mit Launen.

„Mein Ende. Dein Anfang“ist ein großer Wurf. Unbedingte­s Kino, das mehr will, als die fernsehdom­inierten Dramaturgi­en und Ästhetiken in Deutschlan­d gemeinhin zulassen.

Mein Ende. Dein Anfang. Regie: Mariko Minoguchi. Deutschlan­d 2019. FSK ab 12. Mit Saskia Rosendahl, Edin Hasanovic.

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FOTO: ANA RADICA Saskia Rosendahl als Nora.

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