Die Nato sucht ihre Rolle
Macron stört die Einigkeit beim Gipfel – Merkel will RusslandBeziehungen überprüfen
WATFORD (dpa/AFP/se) Die Nato hat ihren Grundsatzstreit vertagt, ihren 70. Geburtstag einigermaßen harmonisch über die Bühne gebracht und sich demonstrativ auf eine gemeinsame Abschlusserklärung verständigt. Darin erneuern die Verbündeten ihre gegenseitige Beistandsverpflichtung. Auch positionieren sie sich erstmals zum militärisch aufstrebenden China, ohne das Land ausdrücklich als Bedrohung einzustufen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und USPräsident Donald Trump zogen am Mittwoch eine demonstrativ positive Bilanz des Jubiläumsgipfels. Allerdings lässt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron nicht locker: Nach seiner Fundamentalkritik an der Allianz fordert er Antworten auf „existenzielle Fragen“. Strittig sind auch weiterhin die Alleingänge der Türkei.
Macron hatte dem Bündnis im Vorfeld des Treffens vor den Toren Londons den „Hirntod“bescheinigt. Die Breitseite hatte das Spitzentreffen der 29 NatoStaaten überschattet. Trump hat Macron in Watford scharf gemaßregelt und dessen „Hirntod“Diagnose respektlos, beleidigend und gefährlich genannt. Der französische Präsident hielt aber auch zum Abschluss des Gipfels dagegen.
Die Nato müsse ihre heutigen Ziele sowie Rechte und Pflichten der Mitglieder bestimmen, bekräftigte Macron. Zu den Pflichten gehöre, Partner nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen, wie es beim Rückzug der USA aus Nordsyrien und der türkischen Militärintervention dort der Fall gewesen sei. Nach Macrons Angaben seien die NatoMitgliedsstaaten zudem nicht bereit, die kurdische YPGMiliz in Nordsyrien wie von der Türkei gefordert als „Terrororganisation“einzustufen. „Es ist klar, dass wir damit nicht einverstanden sind“, sagte Frankreichs Präsident. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte vor dem Gipfel gedroht, Beschlüsse zu blockieren, wenn die NatoLänder die YPG nicht als Terrororganisation einstuften. Ankara sieht die YPG als Teil der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die auch in der EU als terroristische Vereinigung betrachtet wird. Die jüngste türkische Militäroffensive in Nordsyrien richtete sich gegen die dortigen Kurden.
Macron betonte, er sei bereit, die PKK „zu bekämpfen und all diejenigen, die terroristische Akte gegen die Türkei begehen“. Er könne aber nicht den türkischen Verkürzungen folgen und verschiedene politische oder militärische Gruppen in einen Topf werfen. Aus seiner Sicht sei mit der Türkei „kein Konsens möglich“.
Auch mit Russland müsse es einen intensiven Dialog für Sicherheit und Stabilität in Europa geben, auch über einen möglichen Ersatz für den gekündigten INFAbrüstungsvertrag für Mittelstreckenraketen, so Macron. Er glaube nicht, dass alle am Tisch der Nato Russland noch wie vor 70 Jahren als „Feind“sähen. Bundeskanzlerin Merkel pflichtete ihm in einem Punkt bei: Die Beziehungen zu Russland sollten auf den Prüfstand gestellt werden. Grundlage dafür solle die NatoRusslandAkte von 1997 sein, die auf ein kooperatives Verhältnis abzielt.
Ähnlich argumentierte auch CDUAußenexperte Roderich Kiesewetter. Der Bundestagsabgeordnete aus Aalen sagte der „Schwäbischen Zeitung“: „Ich hoffe, dass Russland ein echter Partner der Nato wird.“Hierbei sei noch viel zu tun, „aber ausgeschlossen ist es nicht“.
RAVENSBURG 70 Jahre wird die Nato in diesem Jahr. Kerngesund ist das Verteidigungsbündnis zum Geburtstag nicht. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat der Allianz vor ein paar Wochen sogar den „Hirntod“diagnostiziert. Wie steht es um das Bündnis? Können die Partner wieder zusammenfinden – oder hat sich diese Organisation überlebt? Sebastian Heinrich hat darüber mit dem Aalener Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter gesprochen, Obmann für die CDU/CSUFraktion im Auswärtigen Ausschuss.
Herr Kiesewetter, ist die Nato hirntot?
Nein, die Nato ist nicht hirntot. Aber Macron hat eine Reihe von Punkten angesprochen, die verbesserungswürdig sind. Insbesondere die strategische Abstimmung innerhalb der Nato, beispielsweise, wenn es um das Vorgehen der Türkei in Syrien geht – oder die Lastenteilung zwischen europäischen NatoStaaten und den USA. Zur Motivation von Macron muss man aber auch sagen: Er selbst ist eigentlich ein NatoKritiker. Frankreich beteiligt sich kaum an der NatoRückversicherung in Osteuropa, beteiligt sich auch finanziell nicht sonderlich. Frankreich möchte eine europäische Verteidigung – und die EU stärken. Wir Deutschen haben dagegen ein ganz großes Interesse daran, dass Europa zwar einen größeren Anteil an der Lastenteilung trägt, aber keine Sonderrolle spielt.
Wie soll das klappen mit der besseren strategischen Abstimmung – bei den ganzen Streitthemen, die es momentan gibt? Man muss ja nur in den Norden Syriens blicken, wo die NatoPartner USA und Türkei ganz unterschiedliche Interessen vertreten ...
Außenminister Heiko Maas hat da den sehr vernünftigen Vorschlag gemacht, einen Beratungsmechanismus zu etablieren. Momentan gibt es drei Störquellen in der Nato: Zum einen ist das Trump, der aber momentan erstaunlich ruhig ist, weil es ihm gelungen ist, dass die NatoStaaten in Europa mehr Geld ausgeben. Zweitens haben wir den türkischen Präsidenten Erdogan, der eine ganz eigene, spalterische NatoStrategie verfolgt. Er kauft russische Flugabwehrraketen, die nicht in das entsprechende NatoSystem eingebunden sind. Er geht menschenrechtlich fragwürdig vor gegen Journalisten und Andersdenkende im Allgemeinen, selbst innerhalb der Streitkräfte sind Hunderte in Haft. Und er handelt in Syrien unabgestimmt und völkerrechtswidrig und bringt so die ganze Nato in Misskredit. Drittens haben wir Frankreich, das eine eigene europäische Autonomie will. Im Grunde hat Macron einen Sonderfrieden mit Russland vorgeschlagen, obwohl Moskau im UkraineKonflikt das Minsker Friedensabkommen nicht einhält. Das ist ein gefährlicher Vorschlag. Bei all diesen Themen bietet sich an, dass die schweigende Mehrheit der NatoLänder – von Spanien, Portugal, Kanada bis Italien – die Nato wieder auf Kurs bringt: auf den der Rückversicherung, der kollektiven Verteidigung, kooperativen Sicherheitspolitik und des Krisenmanagements. Ich glaube, das wird auch funktionieren.
Die Nato ist ein Kind des Kalten Krieges, des nuklearen Wettrüstens zwischen West und Ost. Geht ihre Zeit nicht einfach zu Ende – in einer multipolaren Welt, in der Bündnisse viel komplizierter sind?
Nein, die Nato geht noch lange nicht in Rente. Ich glaube sogar, wir werden eine Revitalisierung erleben, durch die Multipolarität, durch das starke Auftreten Chinas in Afrika. Es geht darum, die regelbasierte internationale Ordnung aufrechtzuerhalten. Resolutionen des UNSicherheitsrats und Beschlüsse der UNGeneralversammlung müssen weiter eine Rolle spielen und die Nato verteidigt auf dem Boden des Völkerrechts die internationale regelbasierte Ordnung.
In Deutschland fordern einige Politiker seit Jahrzehnten etwas ganz anderes: Statt aufzurüsten und die Nato zu stärken solle man im Gegensatz dazu die Vereinten Nationen stärken. Was ist daran falsch?
Von den permanenten Mitgliedern im UNSicherheitsrat sind drei Mitglied der Nato, zwei nicht – nämlich China und Russland. Und ich glaube, es ist wichtig, dem Sicherheitsrat Unterorganisationen zur Verfügung zu stellen, die für die Wahrung des Rechts und des Friedens sorgen. Es geht bei der Nato nicht um Aufrüstung, sondern um Fähigkeiten und Bedrohungsgefühle. Und es ist zum Beispiel klar, dass sich die baltischen Staaten durch das Vorgehen Russlands seit 2007 bedroht fühlen. Der UNSicherheitsrat war aber zu dieser Zeit gelähmt – und die Nato hat da als Rückversicherung funktioniert. Es ist ganz wichtig, dass wir Europäer die Nato zu einem Instrument machen, das für Stabilität rund um Europa sorgt. Die Zukunft der Nato wird daran gemessen, ob sie in der Lage ist, Krisen und Konflikte um Europa herum zu bewältigen. Nicht durch Militäreinsätze, sondern zur Absicherung und zum Schutz – und nur bei Bedarf mit Gewalt.
Was wäre Ihre Wunschvorstellung: Wie soll die Nato in 20 Jahren aussehen?
Sie soll weiterhin ein transatlantisches Bündnis sein, mit Kanada und den USA. Sie soll weiterhin – solange es Nuklearwaffen gibt – Schutz dagegen bieten. Und drittens wünsche ich mir, dass wir dann eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland haben, damit sich das Land dem Westen und Europa zugehörig fühlt und nicht China. Ich hoffe, dass Russland ein echter Partner der Nato wird. Da ist viel zu tun, aber ausgeschlossen ist es nicht.