Von der Leyen macht beim Klima Tempo
Neue EUKommissionschefin möchte bis 2027 gut 100 Milliarden Euro ausgeben
BRÜSSEL (dpa) Für ihre Klimapolitik will die neue EUKommissionschefin Ursula von der Leyen zwischen 2021 und 2027 gut 100 Milliarden Euro mobilisieren. Dies sagte die deutsche Politikerin am Mittwoch in Brüssel. Zwar gebe es Sorge, wie die ambitionierte Klimapolitik finanziert werden solle, sagte von der Leyen. Aber: „Wir sollten uns immer darüber bewusst sein, was die Kosten des NichtHandelns sein würden – und es gibt bereits Kosten.“
Zugleich kündigte sie an, am Mittwoch kommender Woche den Fahrplan für ihre Klimavorschläge zu präsentieren. Die frühere Bundesverteidigungsministerin, die am Sonntag die Nachfolge des Luxemburgers JeanClaude Juncker angetreten hat, hat den Klimaschutz zu einer ihrer Prioritäten gemacht. Sie bekennt sich zum Ziel, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen, also von da an keine weiteren Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen.
Derweil wurde bekannt, dass Deutschland laut einem Ranking der Entwicklungsorganisation Germanwatch 2018 erstmals unter den drei am stärksten von Extremwetter betroffenen Staaten eingestuft wurde. Wegen der Hitzewellen, Stürme und Dürren im Vorjahr landete Deutschland hinter Japan und den Philippinen auf Platz drei im sogenannten KlimaRisikoIndex, den Germanwatch auf der Weltklimakonferenz in Madrid vorstellte.
BRÜSSEL Ohne deutliche Änderungen in der Klimapolitik und beim Umweltschutz wird Europa seine selbst gesteckten Ziele verfehlen. Das ergibt sich aus einem Bericht der Europäischen Umweltagentur EEA, dem hauseigenen Wissenschaftsinstitut der EUKommission. Deren neue Chefin Ursula von der Leyen hatte ihren ersten offiziellen Arbeitstag bei der Weltklimakonferenz in Madrid verbracht. Vor den Delegierten erklärte sie erneut, dass nachhaltiges Wirtschaften in ihrer Amtszeit Vorfahrt haben solle. Kommende Woche schon werde der zuständige Kommissar Frans Timmermans die Eckpunkte eines „European Green Deal“der Öffentlichkeit vorstellen.
Ziel dieses Plans ist es, durch Investitionen in Zukunftstechnologien Wirtschaftswachstum und Umweltverträglichkeit zu versöhnen. Dabei komme Europa eine Vorreiterrolle zu, die mittelfristig in eine globale grüne Wirtschaftsweise münden solle. Für das kommende Jahr kündigte von der Leyen ferner an, das erste EUKlimagesetz vorstellen zu wollen. Es solle die Weichen in Europa so stellen, dass der Kontinent 2050 karbonneutral sei, also kein CO mehr in die Atmosphäre entlasse. Zu so hochfliegenden Plänen steht der Bericht der EEA in brutalem Kontrast. Er zeigt auf, dass sich nach einigen Erfolgen die Umweltbedingungen in Europa wieder verschlechtern.
Artenschutz:
Nur ein kleiner Teil der gesetzlich geschützten Arten und Lebensräume ist in einem Zustand, den die Wissenschaftler als befriedigend bezeichnen. 77 Prozent der Arten und 84 Prozent ihrer Lebensräume sind von Versiegelung, landwirtschaftlicher Übernutzung und anderem Stress bedroht. Das EUZiel, den Biodiversitätsverlust bis 2020 zu stoppen, werde „voraussichtlich nicht erreicht“, heißt es in dem Bericht. Zwar seien Meeresschutzgebiete und Naturparks den gesetzlichen Vorgaben entsprechend ausgewiesen worden. Einige Bestände hätten sich erholt. Die meisten anderen Ziele aber würden vermutlich verfehlt. Weltweit seien rund 75 Prozent der Umwelt zu Lande und 40 Prozent der Meeresumwelt gravierend geschädigt. Mehr Arten als je zuvor in der Menschheitsgeschichte seien vom Aussterben bedroht.
Luft und Wasser:
Durch strenge Umweltauflagen, moderne Filtersysteme und einen Anstieg der grünen Energieerzeugung wurden Luft und Wasserbelastung seit 1990 in der EU deutlich gemildert. Es gelang, den Wasserverbrauch zwischen 1990 und 2015 um 19 Prozent zu senken. Doch in jüngster Zeit werden wachsender Konsum, größere Mobilität und stetig höherer Lebensstandard nicht mehr durch technische Neuerungen ausgeglichen. Seit 2014 steigt zum Beispiel der Energieverbrauch wieder an, auch die Verkehrsbelastung steigt. In der industriellen Produktion werden unverändert viele belastende und als gefährlich eingestufte Chemikalien verwendet. Eine grundsätzliche Trendwende in der Landwirtschaft ist ebenfalls nicht gelungen. Die Nitratbelastung des Trinkwassers steigt, das Artensterben wird durch industrielle Produktionsmethoden beschleunigt. Die aktuellen Bauernproteste zeigen, dass die Branche Forderungen nach Ressourceneffizienz und umweltschonendem Wirtschaften als existenzbedrohlich erlebt. Ursula von der Leyens Antwort auf diese Ängste ist der von ihr geplante „Fonds für gerechte Umstrukturierung“. Aus dem EUHaushalt sowie mit Krediten und Kreditgarantien der Europäischen Investitionsbank will sie in Kooperation mit der Privatwirtschaft von 2021 bis 2027 insgesamt 100 Milliarden Euro locker machen. Sie sollen Unternehmen und Bauern helfen, den Sprung in die CO2neutrale umweltverträgliche Zukunft zu schaffen.
Ressourcenschonung:
Was die Einsparung von Energie und Grundstoffen sowie die Recyclingrate angeht, sieht die Bilanz etwas besser aus. Treibhausemissionen sind zwischen 1990 und 2017 um 22 Prozent gesunken, der Anteil erneuerbarer Energien am europäischen Mix auf 17,5 Prozent im Jahr 2017 gestiegen – allerdings war die Verlangsamung des Warenkreislaufs nicht nur politischen Vorgaben und technischen Verbesserungen geschuldet, sondern auch der Wirtschaftskrise. Der Endenergieverbrauch, der seit 1990 trotz steigenden Bruttosozialprodukts stetig sank, steigt aber wieder. Die Autoren des Berichts warnen, dass die aktuelle Entwicklung die Klima und Energieziele für die Jahre 2030 und 2050 in Gefahr bringe.
Sie sei überzeugt davon, dass eine Gesellschaft sich messbare Ziele stecken müsse, um Veränderungen zu erreichen. Deshalb werde ihre Kommission umfassende neue Gesetze zum Schutz von Umwelt und Klima vorlegen, erklärte von der Leyen gestern in Brüssel. Wenn sie dabei nicht riskieren will, eine europaweite Gelbwestenbewegung zu provozieren, wird sie zur Abpolsterung dieses gewaltigen Strukturwandels sehr viel Geld brauchen. Die Mitgliedsstaaten aber, die dieses Geld bewilligen müssten, halten die Geldbörse bislang fest geschlossen.