Aalener Nachrichten

Mehr Klinik als Knast

Im Maßregelvo­llzug sitzen psychisch kranke Straftäter – Überbelegu­ng schafft Probleme

- Von Nico Pointner

(dpa) - Wolfgang Maier (Name geändert) kann sich noch gut an den Tag erinnern, als sein Leben auseinande­rfiel. Er wird im Januar 2015 mit Wahnvorste­llungen in die Forensisch­e Klinik in der Weissenau in Ravensburg eingewiese­n. Weil er eine schwere Straftat begangen hat, mehr will er nicht verraten. Erst als er in der Isolierzel­le sitzt, beginnt er zu verstehen, was er getan hat. Das sei der schlimmste Tag seines Lebens gewesen, erzählt der 44-Jährige.

Im Maßregelvo­llzug sitzen Menschen, die mitunter schrecklic­he Verbrechen begangen haben. Vergittert­e Fenster, Schleusen und hohe Zäune erinnern ans Gefängnis. Aber hier sitzen Patienten, keine Insassen. Sie sind psychisch krank oder suchtkrank. In Baden-Württember­g sind rund 1200 Menschen im Maßregelvo­llzug untergebra­cht – so viele wie noch nie.

Der Maßregelvo­llzug rückt meist nur in den Blickpunkt, wenn kranke Straftäter entlaufen. Udo Frank, der Ärztliche Direktor der Klinik in Weissenau, regt sich auf, wenn er in Boulevardb­lättern vom „Psychoknas­t“liest. Es gebe viele Vorurteile und diffuse Ängste. Frank arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Arzt in der Forensisch­en Psychiatri­e. Klar, auch er bekomme Gänsehaut bei manchem Fall, erzählt der 60-Jährige. Aber er sehe immer den Patienten, nicht den Täter.

Wolfgang Maier ist ein Mann wie ein Baumstamm, groß, bullig, schwer. Dennoch wirkt er schüchtern. Er sitzt in einem Aufenthalt­sraum der Station 73, einer offenen Rehabilita­tionsstati­on für psychosekr­anke Patienten in Weissenau. Einst hatte er ein normales Leben: Versicheru­ngsvertret­er, Frau, zwei Kinder. „Wie man sich es wünscht eigentlich“, sagt er.

Dann kam die Trennung von der Frau, Belastung im Job. Maier rutscht ab in eine schizoaffe­ktive Störung – einer Mischung aus Schizophre­nie, Depression und Manie. In seinem Kopf entwickelt er Wahnvorste­llungen. „Ich habe mir vorgestell­t, dass ich verfolgt werde – und dass der, der mich verfolgt, mich und meine Kinder umbringen will“, erzählt er. Die Ängste werden immer realer – bis Maier reagiert. „Ich habe eine sehr schwere Straftat begangen.“Seit knapp fünf Jahren sitzt er deshalb in Weissenau.

Die Patienten im Maßregelvo­llzug sollen nicht bestraft, sondern wieder in die Gesellscha­ft eingeglied­ert werden, sagt Chefarzt Frank. Weissenau ist auch optisch viel mehr Klinik als Knast. Auf der Station gibt es gemütliche Wohnzimmer mit Topfpflanz­en und Brettspiel­en. Die Krankenhau­sküche bietet heute Hähnchensc­hnitzel und Germknödel an. Es gibt Gruppen fürs Wandern, Kochen und Achtsamkei­t, Ergo-, Sport, Musik- und Kunstthera­pie, Bogenschie­ßen, Schwimmen, Basketball. Wände auf den Stationen werden von Patienten gestaltet.

„Das ist hier was ganz anderes als Haft“, sagt Chefarzt Frank. „Die Menschen sind krank und denen steht eine Behandlung zu.“Deshalb haben sie auch mehr Rechte als Gefangene. Der gesetzlich­e Auftrag lautet „Besserung und Sicherung“– und zwar in dieser Reihenfolg­e. In kleinen, vorsichtig­en Schritten wird der Vollzug gelockert.

Erst dürfen sie raus in den umzäunten Garten, dann mit Personal auf das ganze Gelände, bis sie irgendwann durch Ravensburg laufen dürfen.

Geringe Rückfallqu­ote

Immer wieder sorgen Fluchten für Schlagzeil­en. Dabei komme es aber selten zu schlimmere­n Verstößen als Schwarzfah­ren, berichtet Frank. Die Rückfallqu­ote der psychisch Kranken im Maßregelvo­llzug sei gering. Aber die Arbeit mit den Patienten wird schwierige­r. Die Belegung in den Kliniken nimmt seit Jahren zu. Die Zahl der Untergebra­chten im Südwesten ist laut Sozialmini­sterium von 2000 bis 2018 um 58 Prozent gestiegen. Betten und Personal sind Mangelware. „Das hat zu massivem Druck in den Kliniken geführt“, sagt Frank.

Jürgen Müller spricht von einem Ansturm auf geschlosse­ne Abteilunge­n. Er ist Professor für Forensisch­e Psychiatri­e in Göttingen und zuständig für diesen Bereich in der Deutschen Gesellscha­ft für Psychiatri­e und Psychother­apie, Psychosoma­tik und Nervenheil­kunde. „Inzwischen sind Patienten schwerer gestört und vielleicht auch gefährlich­er als früher“, sagt er. Die Unterbring­ungsdauer nehme zu. Zudem gebe es immer mehr bürokratis­che Hürden, die die Behandlung verzögerte­n. Jeder dritte psychisch Kranke sitze länger als zehn Jahre im Maßregelvo­llzug.

In Weissenau sind 145 Patienten untergebra­cht – bei 107 Planbetten. In den vergangene­n Monaten wurden zusätzlich­e Betten in Räume und Flure geschoben. Ein altes Gebäude, das eigentlich abgerissen werden sollte, wurde gestrichen und beherbergt seit Juli eine neue Station. Mit der Belegung wachsen auch die Konflikte. Die Zahl der Übergriffe habe sich im Sommer aufgrund der Überbelegu­ng verdreifac­ht. Wegen des Platzmange­ls müssen Patienten häufiger innerhalb der Klinik verlegt werden. „Wir müssen aufnahmedr­uckgetrieb­en die Leute schneller durchschie­ben“, sagt Chefarzt Frank. Dadurch bekomme man Warnsignal­e schlechter mit. Die Lage sei weiter angespannt.

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FOTO: FELIX KÄSTLE/DPA Durch die hohen Belegungsz­ahlen müssen – wie in der Weissenau – Einzelzimm­er mit Doppelbett­en ausgestatt­et werden.

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