Angst und Ohnmacht als ständige Begleiter
Jesidische Kinder erzählen, wie Krieg und Vertreibung ihr Leben verändert haben – Viele in den Flüchtlingscamps leiden bis heute
– Der neunjährige Karwan sitzt etwas niedergedrückt im Lehrerzimmer der Schule im Flüchtlingscamp Mam Rashan. Sein Vater, Nashwan Sulaiman, erzählt von den Problemen seines Sohnes. Angst habe der Bub, die ganze Zeit. „Der Junge traut sich auch am Tag nicht allein den Wohncontainer der Familie zu verlassen“, sagt Sulaiman, der selbst Grundschullehrer ist. „Und er ist aggressiv. Wenn er etwas nicht sofort bekommt, beispielsweise ein Glas Wasser, gerät er völlig außer Kontrolle.“
Karwan sinkt derweil noch etwas mehr im Stuhl zusammen. Natürlich hört er es nicht gerne, wenn sein Vater von seinen Nöten erzählt, von seinen Tränen, wenn die vier jüngeren Schwestern unbeschwert rausgehen, um draußen zu spielen. Von seinem scheinbaren Desinteresse an allem, was sich vor der Haustür abspielt, wo er sich nicht sicher fühlt. Doch Nashwan Sulaiman geht es nicht darum, seinen Sohn bloßzustellen, er erhofft sich therapeutische Hilfe für ihn im Therapiezentrum von Mam Rashan. „Meine Frau und ich würden es ihm so wünschen, dass er seine psychischen Probleme hinter sich lassen kann“, sagt er.
Der IS-Angriff und die Flucht
Vier Jahre war Karwan alt, als die Anhänger des sogenannten Islamischen Staates (IS) seine Heimat im Nordwesten des Iraks überfielen. Seine Familie konnte sich zwar retten, aber sie saßen sieben Tage lang im Shingal-Gebirge fest, bis sie über einen von syrischen Kurden freigekämpften Korridor fliehen konnten. „Die Kinder hörten die ganze Zeit Bombenexplosionen und Gewehrschüsse. Sie hatten furchtbare Angst. „Das hat viele von ihnen krank gemacht“, sagt Nashwan Sulaiman. Bis zum 3. August 2014 sei sein Sohn ein aufgewecktes, intelligentes Kind gewesen, jetzt vergrabe er sich am liebsten vor dem Fernseher. Freunde, Spielkameraden hat er nur wenige – und das in einem Camp, in dem rund 40 Prozent der Bewohner jünger als 17 Jahre sind.
Die zehnjährige Media kann sich an die Flucht vor dem IS aus dem Shingal-Gebiet nicht bewusst erinnern, aber sie weiß, dass sie große Angst hatte, als die Terrormiliz ihre Heimat angegriffen hat. Vor allem die Geräusche seien schlimm gewesen. Offensichtlich zu schlimm für das Mädchen mit der zarten Kinderstimme und den großen, ernsthaften Augen. Als sie schon längst in Sicherheit war, wurde sie immer wieder plötzlich ohnmächtig. „Das fing an, als ich in der zweiten Klasse war“, erzählt sie. Dabei fühlt sie sich wohl im
Camp Mam Rashan. Sie liebt es, zur Schule zu gehen, ist die Zweitbeste in ihrer Klasse. Und sie geht mit großer Freude zum Spielplatz, den Leserinnen und Leser der „Schwäbischen Zeitung“finanziert haben.
Mit dem siebenjährigen Hassan zu sprechen, ist im Grunde nicht möglich. Der Junge, der mit seiner Familie im Camp Sheikhan lebt, leidet unter Sprachstörungen, seit er, getrennt von seiner Mutter und seinen Geschwistern, vier Jahre lang in IS-Gefangenschaft war. Den kurdischen Dialekt seiner Eltern hat er in diesem Zeitraum verlernt, da die ISKämpfer Arabisch mit ihm gesprochen hätten, erzählt sein Onkel Haziz
Ibrahim Ahmad. Jetzt spricht Hassan, wenn er denn spricht, KurdischArabisch. Was in einem Kind vorgeht, das so lange Zeit von seiner ebenfalls verschleppten Mutter getrennt war? Die Familie weiß es nicht. „Hassan erzählt nichts über die Zeit beim IS“, sagt die Mutter, Dilwin Kassem Ibrahim, deren ältester Sohn bei einem Luftangriff in Syrien ums Leben kam und deren Mann immer noch vermisst wird. Hassan sei zwar aggressiv im Umgang mit anderen Kindern, aber auf dem Weg der Besserung. Dass ihm eine Therapie helfen könnte, glaubt seine Mutter allerdings nicht. „Hassan ist zu aufgedreht, um beispielsweise zu malen. Er hat unglaublich viel Energie.“
Wer durch die jesidischen Flüchtlingscamps in der nordirakischen Provinz Dohuk geht, spürt tatsächlich diese Energie der Kinder, die dort ein neues Zuhause gefunden haben. Die Lebensfreude, die sie ausstrahlen, scheint auf den ersten Blick ungetrübt. Auf dem Fußballplatz jagen sie mit einer solchen Inbrunst dem Ball hinterher, als gehe es um ein Champions-League-Finale. Und auf den Spielplätzen, die es inzwischen in Mam Rashan und Sheikhan gibt, wird mit so viel Schwung geschaukelt und das Karussell gedreht, dass dem Zuschauer schon fast schwindlig
wird. Dass es dabei mitunter etwas grob zur Sache geht, scheint alle Beteiligten nicht zu stören – selbst diejenigen, die kleiner und schwächer sind.
Aber wer genauer hinschaut, sieht, dass all diese kleinen Menschen eine schwere Last zu tragen haben. Selbst wenn sie noch nicht Zeugen des IS-Angriffs auf ihre Dörfer wurden, erleben sie nun die Folgen des Völkermords an den Jesiden: die Trauer vieler Menschen in den Camps, die Hilflosigkeit jesidischer Eltern, die ihre Kinder und sich selbst nicht schützen konnten, und die Hoffnungslosigkeit vieler Erwachsener mit Blick auf ihre eigene
Zukunft und der jesidischen Gemeinschaft im Irak.
Die zehnjährige Media ist inzwischen allerdings nicht mehr so pessimistisch, wenn sie an ihre Zukunft denkt. Die Schülerin hat mehrere Pläne: Sie will weiterhin möglichst gut in der Schule sein, dann, wenn möglich, nach Australien auswandern und Ärztin werden, um anderen Menschen helfen zu können – so wie ihr geholfen wurde, als sie von Ohnmachtsanfällen und Asthma geplagt wurde. In den vergangenen Jahren besuchte sie das Therapiezentrum in Mam Rashan, um dort mit einem Psychologen über ihre Probleme zu sprechen. Seither wird sie nicht mehr ohnmächtig. Auch dass sie dort einen Block und Stifte bekommen habe, um sich zu Hause ihre Nöte von der Seele zu malen, tat ihr gut. „Das kann ich den Erwachsenen hier im Camp nur empfehlen“, sagt sie. „Die Therapeuten sind in der Lage, uns zu behandeln. Es ist eine gute Sache, dass man dort hingehen kann.“
Therapie gegen die Ängste
Der neunjährige Karwan weiß zwar auch, was er einmal werden möchte – Lehrer wie sein Vater –, aber sein Leben ist nach wie vor von seinen Ängsten bestimmt. Eine Therapie, die der Junge außerhalb des Camps machte, hat nicht so viel gebracht, wie seine Familie erhofft hatte. „Nach 18 Sitzungen war mein Sohn zwar nicht mehr so aggressiv wie zuvor, aber die Ängste sind geblieben“, sagt Nashwan Sulaiman. Und damit verbunden die Antriebslosigkeit, die Karwan zum Außenseiter im Camp macht. „Wenn die Schule zu Ende ist, bleibt er bis zum Schulbeginn am nächsten Tag im Container“, sagt sein Vater. Er hofft jetzt auf einen Termin im Therapiezentrum von Mam Rashan, bei einem der Psychologen, die von den Leserinnen und Lesern der „Schwäbischen Zeitung“finanziert werden. Diese Therapeuten wurden in der Stadt Dohuk am Institut für Psychotherapie und Psychotraumatologie ausgebildet. Das Projekt hat Professor Jan Ilhan Kizilhan, Psychologe und Traumatologe an der Dualen Hochschule BadenWürttemberg, ins Leben gerufen, um den Menschen im Nordirak, die an den Folgen der IS-Verbrechen leiden, besser helfen zu können.
Wie es für Hassan, der vier Jahre in IS-Gefangenschaft war, weitergehen wird, ist ungewiss. Für seine Mutter wäre es ein erster Schritt, wenn ihre Kinder die anderen Kinder im Camp nicht mehr schlagen würden. Aber lange möchte die Familie ohnehin nicht mehr im Irak bleiben. Dilwin Kassem Ibrahim will mit ihren Kindern nach Australien auswandern, um dort neu anfangen zu können.