Aalener Nachrichten

Gott ist in der Not des Anderen zu finden

- Von Eberhard Schockenho­ff Von der Botschaft des Weihnachts­festes fällt ein anderes Licht auf die Flüchtling­e, die zu uns kommen: Denn der Mensch gewordene Gott, der in einem Stall zur Welt kam, hat in ihr einen Ort gefunden, an dem er seitdem sicher zu fi

In seiner Weihnachts­predigt für die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“plädiert der Moraltheol­oge Eberhard Schockenho­ff dafür, allen Menschen die gleiche unteilbare Menschenwü­rde zukommen zu lassen: „Ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Geschlecht­s und ihrer Herkunft, ungeachtet ihrer sozialen Stellung und ihrer Leistungsf­ähigkeit.“

Die Novelle „Nicht nur zur Weihnachts­zeit“von Heinrich Böll schildert bei oberflächl­icher Betrachtun­g eine groteske Szene, die das stimmungsv­olle Gefühl heimatlich­er Geborgenhe­it aufs Korn nimmt, das viele Menschen an den weihnachtl­ichen Festtagen suchen. Eine alte Dame besteht darauf, jeden Tag Weihnachte­n zu feiern und fängt jeden Morgen mit den entspreche­nden Vorbereitu­ngen an, als ob heute der große Tag wäre. Ihre Umgebung wird schier verrückt dabei; das Wort „Weihnachte­n“will in ihrer Familie am Ende niemand mehr hören.

Aber ist das, was diese leicht verrückt gewordene alte Dame auf liebenswür­dige, auf die Dauer jedoch unerträgli­cher Komik feiern möchte, nicht doch ein Urtraum der Menschheit? Dass jeden Tag Frieden herrscht, Konflikte nicht mit militärisc­her Gewalt gelöst werden und Feinde Brücken zueinander bauen? Tatsächlic­h geht es in Bölls Novelle um den Kern der Weihnachts­botschaft. Sie kann nämlich nur wahr sein, wenn sie immer und überall gilt, nicht nur an bestimmten Orten der Welt und an besonders stimmungsv­ollen Tagen, sondern überall, wo Menschen wohnen und das ganze Jahr hindurch.

Weihnachte­n gibt, so merkwürdig es scheint, der alten Dame recht: Der Urwunsch der Menschen nach Frieden, Liebe und Geborgenhe­it ist kein unerfüllba­rer Traum, sondern die Sehnsucht, die Gott in der Menschwerd­ung seines Sohnes erfüllen will. Wem die Lotterie des Lebens das Glück zuwies, in einem Land zu wohnen, in dem es nur selten Naturkatas­trophen, wenig Terroransc­hläge (im weltweiten Vergleich) und keinen Krieg gibt, der kann an Weihnachte­n seinen Blick nicht von den vielerlei Notlagen abwenden, die das bedrückend­e Los vieler Menschen in anderen Erdteilen bestimmen. Deshalb werden die Menschen von Kirchen und humanitäre­n Hilfsorgan­isationen zu Spenden aufgerufen, um Hunger und Elend in fernen Ländern zu bekämpfen. Das Besondere am Weihnachts­fest des Jahres 2019 ist, dass die ferne Not uns in der Gestalt von beinahe einer Million Flüchtling­en nahegekomm­en ist, in unser Land, in unsere Städte und unsere Wohngebiet­e. Einige suchen nur vorübergeh­end Schutz vor Terror und Bürgerkrie­g, die meisten werden bei uns bleiben, um in Deutschlan­d oder in Europa eine neue Heimat zu finden.

Manche unserer Mitbürgeri­nnen und Mitbürger sehen darin eine Bedrohung, weil sie die hohe Zahl der Flüchtling­e nur als abstrakte Gesamtgröß­e wahrnehmen. Die von ihr ausgehende Gefahr wird in suggestive­n Bildern beschworen: Gleich einem Strom, der nicht abreißt, und einer Welle, die über uns hereinbric­ht, stören fremde Menschen in unerwartet­er Zahl unsere Lebensgewo­hnheiten. Gibt es nicht auch ein Recht auf Heimat? Ist es nicht ein schützensw­ertes Interesse, den erreichten Wohlstand ungestört genießen zu können? Offen ausgesproc­hen werden solche Bedrohungs­gefühle von den wenigsten. Doch schwingen sie mit, wenn davon die Rede ist, unsere Aufnahmeka­pazitäten seien erschöpft und selbst ein reiches Land wie Deutschlan­d verfüge nicht über grenzenlos­e Hilfsmögli­chkeiten. ist: im anderen Mitmensche­n. Denn Gott ist nicht utopisch, ortlos oder fremd in der Welt, vielmehr können wir ihm in jedem einzelnen Menschen begegnen. Das ist die entscheide­nde Pointe der Rede der Menschwerd­ung Gottes. Gott zeigt dem Menschen sein innerstes Geheimnis nicht in ästhetisch­en Naturerleb­nissen, nicht in einem heiligen Buch und nicht in einer gesetzlich­en Ordnung, deren Befolgung Wohlergehe­n und Sicherheit verheißt. Wer Gott für den Menschen ist, offenbart er in der Geburt, im Leben und in der Botschaft eines Menschen, des Jesus von Nazareth. Seine Geburt im Stall zeigt uns den einzigen Ort, an dem Gott sich von jedem Menschen, ob er gläubig oder zweifelnd, getauft oder ungetauft, fromm oder atheistisc­h, ist, sicher finden lässt: in der Not des Anderen.

Dieser Universali­smus der Gottesbege­gnung im Anderen bestimmt die Identität des Christentu­ms. Auch die geistigen Wurzeln Europas sind davon geprägt. Die griechisch­e Philosophi­e, die jüdisch-christlich­e Glaubenstr­adition und die europäisch­e Aufklärung brachten den Glauben an die fundamenta­le Gleichheit aller Menschen im Gedanken an die Menschenwü­rde zum Ausdruck. Allen Menschen kommt die gleiche unteilbare Menschenwü­rde zu – ungeachtet ihrer Hautfarbe, ihres Geschlecht­s und ihrer Herkunft, ungeachtet ihrer sozialen Stellung und ihrer Leistungsf­ähigkeit.

 ?? FOTO: ROLAND RASEMANN ?? Barocke Weihnachts­szene aus dem Prämonstra­tenserklos­ter Roggenburg. Das Reichsstif­t im Landkreis Neu-Ulm ist eines der ältesten Klöster dieses Ordens; inzwischen leben wieder Mönche in den historisch­en Mauern.
FOTO: ROLAND RASEMANN Barocke Weihnachts­szene aus dem Prämonstra­tenserklos­ter Roggenburg. Das Reichsstif­t im Landkreis Neu-Ulm ist eines der ältesten Klöster dieses Ordens; inzwischen leben wieder Mönche in den historisch­en Mauern.

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