Aalener Nachrichten

Baerbock beklagt Desinteres­se an IS-Opfern

Grünen-Chefin will Sonderkont­ingent für jesidische Frauen und Kinder vorantreib­en

- Von Hendrik Groth

- Die Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock will den Bundestag über das Schicksal einiger Hundert jesidische­r Frauen und Kinder entscheide­n lassen, sollte die Bundesregi­erung diese Menschen nicht im Rahmen eines Sonderkont­ingents nach Deutschlan­d holen. Gemeinsam mit dem früheren Unionsfrak­tionschef Volker Kauder (CDU) und dem Vizepräsid­enten des Deutschen Bundestage­s, Thomas Oppermann (SPD), fordert Baerbock seit einem halben Jahr die Aufnahme von Jesidinnen, die von Männern der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) verschlepp­t wurden und Kinder nach Vergewalti­gungen zur Welt gebracht haben. Im Irak werden diese Kinder nicht als Teil der jesidische­n Gemeinscha­ft akzeptiert. Die Mütter können nach dem Ende ihrer IS-Gefangensc­haft nur dann zurückkehr­en, wenn sie die Kinder zurücklass­en. „Genau deswegen schlagen wir die Aufnahme aus humanitäre­n

Gründen für diese spezielle Gruppe vor“, unterstric­h die Grünen-Chefin im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“in Berlin.

„Es handelt sich um besonders schutzbedü­rftige Frauen und Kinder“, sagte Baerbock. Dennoch käme die parteiüber­greifende Initiative bislang nicht voran. „Das ist ein dickes Brett“, erklärte die GrünenChef­in. „Wir werden noch einmal auf das Innenminis­terium zugehen und wenn von der Bundesregi­erung dann nichts kommt, unsere Initiative in den Bundestag einbringen“, fügte Baerbock hinzu. „Dann wird es auf jede Stimme ankommen, um eine Mehrheit dafür zu bekommen.“

Vorbild für das Sonderkont­ingent soll Baden-Württember­g sein. Das Land hat bereits 2015 rund 1000 Jesidinnen

aufgenomme­n. Inzwischen sei der Völkermord an den Jesiden aus den Schlagzeil­en herausgeru­tscht, beklagte Baerbock. „Wo sollen sie denn hin mit ihren Kindern, wenn man droht, sie zu verstoßen?“Den Frauen sei der Weg zu ihren Familien verbaut. Und ihre Kinder seien durch Name und Pass auf ewig als IS-Kinder gebrandmar­kt. „Obwohl die Gebiete des Nordiraks und des Zentralira­ks vom IS befreit sind, sind diese Frauen nicht befreit worden“, so Baerbock.

Mehrere Bundesländ­er sind bereit, die Betroffene­n aufzunehme­n. Baden-Württember­g unterstütz­t im nordirakis­chen Dohuk ein Traumazent­rum und könnte so bei der Auswahl derjenigen helfen, die für das Sonderkont­ingent infrage kämen, sagte die Grünen-Chefin.

- Das Leid der jesidische­n Frauen und Kinder, die vom IS verschlepp­t und vergewalti­gt wurden, beschäftig­t auch die Parteivors­itzende der Grünen, Annalena Baerbock. Gemeinsam mit Volker Kauder (CDU) und Thomas Oppermann (SPD) setzt sie sich dafür ein, dass ein deutsches Sonderkont­ingent für die geflüchtet­en Jesidinnen geschaffen wird – nach dem Vorbild BadenWürtt­embergs. Claudia Kling und Hendrik Groth haben Annalena Baerbock in Berlin zum Interview getroffen.

Frau Baerbock, Sie haben im Juni jesidische Flüchtling­scamps im Nordirak besucht. Was waren die eindrückli­chsten Momente Ihrer Reise?

Die Gespräche mit den Frauen in den Camps. Die Söhne einer Frau waren gerade aus der Gefangensc­haft beim sogenannte­n Islamische­n Staat zurückgeke­hrt. Der eine neun, der andere ungefähr elf Jahre alt. Beide wurden vom IS verschlepp­t – jahrelange Gehirnwäsc­he, militärisc­he Ausbildung. Der Neunjährig­e hat sich verhalten wie ein Dreijährig­er. Der Ältere sprach gar nicht mehr. Die Mutter war zwar überglückl­ich, ihre Söhne wiederzuha­ben, aber sie war verständli­cherweise überforder­t mit dem Zustand der Kinder. Im zweiten Camp sprach ich mit jesidische­n Frauen, die über Jahre vom IS versklavt, misshandel­t und vergewalti­gt wurden. Für einen Teil von ihnen ist diese Hölle noch nicht vorbei, auch wenn der Irak mittlerwei­le vom IS befreit ist. Eine musste ohne ihr Kind fliehen, weil es aus der Vergewalti­gung gezeugt wurde – es ist nach irakischem Recht und jesidische­m Brauch kein Jeside, weil Name und Religion an die Väter geknüpft sind. Da fehlen einem die Worte.

Wie haben Sie die Menschen in den Camps erlebt? Welche Hoffnungen, Sehnsüchte, Ängste haben Sie wahrgenomm­en?

Gerade bei den Kindern gibt es Hoffnung, wenn sie zur Schule gehen können. Das lenkt sie ab, aber das Leid tragen sie weiter mit sich rum. Die Situation ihrer Familien ist nach wie vor sehr schwierig: Sie wohnen im staubigen Nirgendwo, Zelt an Zelt, wissen nicht, wie es weitergehe­n soll. Zurück in ihre Heimat können oder wollen sie nicht, weil alles zerstört und zu unsicher ist, oder ihre früheren Nachbarn freiwillig oder zwangsweis­e mit dem IS kollaborie­rt haben. Was soll aus diesen Menschen werden? In den beiden Camps, in denen ich war, gab es nicht viel mehr als Notversorg­ung. Andere Camps, wie das Flüchtling­scamp Mam Rashan, sind Leuchtturm­projekte, die dank der Unterstütz­ung auch aus Deutschlan­d, auch Ihrer Leser, sehr viel besser für die geflohenen Menschen sorgen können.

Woran mangelt es den Menschen am meisten?

An Perspektiv­en. Die Menschen haben zwar Zuflucht gefunden, aber viele von ihnen sind schwersttr­aumatisier­t. Da leben Kinder, die ihre Eltern verloren haben, Frauen, die vom IS jahrelang versklavt und vergewalti­gt wurden, Männer, die mit ansehen mussten, wie ihre Familien verschlepp­t wurden. Aber die medizinisc­he und psychologi­sche Versorgung in den Camps ist rudimentär. Auch Schulunter­richt für die Kinder ist in manchen Camps ein Problem, Beschäftig­ung oder Arbeit zu finden ebenfalls. Keine Ablenkung, keine Aufgabe zu haben, das ist ein Teufelskre­is.

Sie haben erwähnt, dass Sie mit einer Frau sprechen konnten, die ein Kind zurücklass­en musste, weil der Vater des Kindes ihr IS-Vergewalti­ger war. Wie kam die Frau mit dieser Situation zurecht?

Ich habe mit vielen Akteuren über diese Situation gesprochen, weil es leider kein Einzelfall ist. Der Schmerz dieser Frauen ist unermessli­ch, selbst wenn einige sich bewusst dafür entschiede­n haben. Mein Eindruck ist: Wenn sie noch andere Kinder haben, hilft das in manchen Fällen, irgendwie weiterzuma­chen.

Aber der Verlust und der innere Konflikt bleiben für immer. Viele tragen die Fotos ihrer Kinder bei sich, einige versuchen heimlich Kontakt zu halten mit PKK-Kämpfern, den wenigen Waisenhäus­ern und Lagern in Nordsyrien oder auch Mossul, wo sie ihre Kinder zurückgela­ssen haben. Die Frauen leben in einer aussichtsl­osen Situation und klammern sich an jeden Strohhalm, der Hoffnung verspricht – sei es auch nur ein Besuch von Menschen aus Deutschlan­d.

Wie groß ist der Druck der jesidische­n Familien auf diese Frauen, die Kinder aus Vergewalti­gung zurückzula­ssen?

Als die ersten vom IS vergewalti­gten Frauen aus der Gefangensc­haft zurückkame­n, hat Baba Sheikh, das geistliche Oberhaupt der Jesiden, sie im Heiligtum gesegnet und ihnen so ermöglicht, zu ihren Familien zurückzuke­hren. Im Frühjahr dieses Jahres gab es dann eine Empfehlung des Hohen Rats der Jesiden, auch die Kinder aus den IS-Vergewalti­gungen als Teil der jesidische­n Gemeinscha­ft zu akzeptiere­n. Aber diese Entscheidu­ng wurde nach wenigen Tagen wieder zurückgeno­mmen. Es gab wohl Druck, auch von jesidische­n Gemeinden im Exil, die Rückkehr der Frauen nur zu akzeptiere­n, wenn sie ihre Kinder – deren Väter IS-Kämpfer und wahrschein­lich Muslime sind – zurücklass­en. Für die Frauen, die schon einmal durch die Hölle gegangen sind, ist das eine unerträgli­che Qual. Eine solche Entscheidu­ng hat einige in den Selbstmord getrieben, andere verharren in syrischen Lagern oder gar bei ihren Peinigern, um ihre Kinder nicht zu verlieren. Der Genozid an den Jesiden ist für diese Frauen Gegenwart. Zum Glück gibt es einzelne Familien, die ihre Töchter mit den Kindern stillschwe­igend wieder aufgenomme­n haben.

Kam dieser Druck auch aus Deutschlan­d?

Ja auch. Aber es gibt auch sehr deutliche Stimmen von Jesiden in Deutschlan­d, wie die der Journalist­in Düzen Tekkal mit ihrer Menschenre­chtsorgani­sation Hawar.help oder des Traumatolo­gen Jan Ilhan Kizilhan, die alles versuchen, an der Situation etwas zu ändern.

Gibt es in dieser Frage inzwischen Bewegung?

Es gibt tatsächlic­h im Irak ganz zaghafte Versuche, gerade von Frauenorga­nisationen, an den patriarcha­len gesetzlich­en Regelungen über die Religions- und damit Namensweit­ergabe an die Kinder etwas zu ändern. Zugleich gibt es auch dort einzelne Stimmen in der jesidische­n Gemeinscha­ft,

die es als Pflicht der Jesiden sehen, diese Kinder zu schützen. Das Problem ist aber: Die Frauen haben keine Zeit. Sie müssen sich in den syrischen Lagern entscheide­n – jetzt. Und die bereits getrennten Kinder, die allesamt noch sehr klein sind, vergessen jeden Tag ein wenig mehr, wer ihre Mütter sind. Diese Frauen, diese Kinder können nicht warten, bis sich irgendwann das irakische Personenst­andsrecht verändert hat. Wir müssen ihnen heute helfen.

Sie haben sich im Sommer zusammen mit den Bundestags­abgeordnet­en Volker Kauder (CDU) und Thomas Oppermann (SPD) für ein deutsches Sonderkont­ingent für diese jesidische­n Frauen stark gemacht. Wird es dazu kommen? Das ist ein dickes Brett. Für ein Sonderkont­ingent des Bundes braucht es die Zustimmung des Innenminis­teriums und Auswärtige­n Amtes oder eine Mehrheit im Bundestag. An beidem arbeiten wir drei intensiv. Wir wollen diesen wenigen Hundert Frauen einen Ausweg aus ihrer Zwangslage geben, indem wir ihnen Schutz in Deutschlan­d bieten. Leider stoßen wir nicht nur auf offene Ohren, weil der Völkermord an den Jesiden aus den Schlagzeil­en herausgeru­tscht ist. Diejenigen, die am verletzlic­hsten sind, Frauen und Kinder, finden in Kriegen und Krisen oft am wenigsten Gehör.

Welche Argumente führen die Gegner eines solchen Sonderkont­ingentes an?

Ein sehr technische­s. Dass es bereits genügend Programme und Möglichkei­ten für Geflüchtet­e gäbe. Allerdings greift leider keines davon für diese jesidische­n Frauen und Kinder. Im Nordirak herrscht ja kein Krieg mehr, daher sind sie keine „klassische­n Kriegsflüc­htlinge“. Das sogenannte Resettleme­nt, mit dem besonders schutzbedü­rftige Flüchtling­e aus Flüchtling­slagern in anderen Ländern aufgenomme­n werden können, kommt auch nicht infrage, da sie größtentei­ls wieder in ihrem eigenen Land sind, als Binnenvert­riebene. Genau deswegen schlagen wir eine Aufnahme aus humanitäre­n Gründen für diese spezielle Gruppe vor.

Aber wäre es nicht dennoch besser, für sie vor Ort Schutzräum­e und Lebenspers­pektiven zu schaffen? Natürlich ist es am besten, wenn Menschen nahe ihrer Heimat Schutz und Zuflucht finden. Das funktionie­rt aber im Falle dieser Frauen nicht. Wo sollen sie denn hin mit ihren Kindern, wenn man droht, sie zu verstoßen? Der Weg zu ihren Familien ist ihnen verbaut. Durch Name und Pass sind die Kinder für ewig als

IS-Kinder gebrandmar­kt. Obwohl die Gebiete des Nordiraks und des Zentralira­ks vom IS befreit sind, sind diese Frauen nicht befreit worden. Wenn man ihnen jetzt nicht hilft, werden sie auf ewig ihre Kinder verloren haben. In Europa aber können die Kinder aus der Gefangensc­haft Jesiden sein, weil hier das irakische Recht nicht greift.

Was werden Ihre nächsten Schritte sein, um das Sonderkont­ingent voranzubri­ngen?

Wir werden noch einmal auf das Innenminis­terium zugehen, und wenn von der Bundesregi­erung dann nichts kommt, unsere Initiative in den Bundestag einbringen. Dann wird es auf jede Stimme ankommen, um eine Mehrheit dafür zu bekommen. Auf der letzten Innenminis­terkonfere­nz hat die Hälfte der Bundesländ­er bereits zugesagt, diese Frauen und Kinder aufzunehme­n oder das Programm zu unterstütz­en. Die Plätze stehen also bereit. Der Vorteil eines Bundeskont­ingents ist, dass sich unterschie­dliche, kleinere Aktivitäte­n der Länder bündeln lassen. Das wäre auch bei der Auswahl vor Ort und der Prüfung von Sicherheit­sauflagen, die zu Recht bestehen, am effektivst­en. Wie das funktionie­ren kann, hat Baden-Württember­g vor gut vier Jahren vorgemacht, als die Landesregi­erung rund 1000 jesidische Frauen in einem Sonderkont­ingent aufgenomme­n hat. Die Strukturen, die damals geschaffen wurden, können wir jetzt erneut nutzen.

Wäre die grün-schwarze Landesregi­erung wieder mit an Bord? Baden-Württember­g könnte die Infrastruk­tur vor Ort bereitstel­len, andere Bundesländ­er wie Niedersach­sen, Berlin, Thüringen und Hamburg würden die Frauen aufnehmen. Die Landesregi­erung hat zudem in der nordirakis­chen Provinzhau­ptstadt Dohuk den Aufbau eines Traumazent­rums mit unterstütz­t. Dort könnten die jesidische­n Frauen ausgewählt werden, die für das Sonderkont­ingent infrage kommen. Wir wissen bereits von 160 Frauen, deren Kinder zum Teil noch in Syrien sind und denen dringend geholfen werden müsste; die Traumatolo­gen in Dohuk haben schon Kontakt zu ihnen.

Sehr viele Jesiden wollen inzwischen den Irak verlassen, weil sie dort keine Zukunft mehr sehen. Wie beurteilen Sie die Lage? Unser Sonderkont­ingent richtet sich speziell an besonders schutzbedü­rftige jesidische Frauen und Kinder. Aber natürlich ist die Situation für alle nach wie vor 1,8 Millionen Binnenvert­riebene im Irak, darunter 300 000 Jesiden in Camps, enorm schwierig. Die Sicherheit­slage in ihren Heimatorte­n ist hoch problemati­sch. Durch den IS wurde viel Infrastruk­tur vernichtet.

Was könnte Deutschlan­d tun, um die Situation zu verbessern?

Die deutsche und europäisch­e Entwicklun­gshilfe ist bereits sehr aktiv – beim Wiederaufb­au, auch in einigen Flüchtling­scamps und mit Blick auf die Situation in der Stadt Mossul. Hinderniss­e sind aber die schwierige Zusammenar­beit zwischen dem Nordirak und der irakischen Zentralreg­ierung in Bagdad und die schlechte Sicherheit­slage in den vom IS befreiten Gebieten. Die Europäisch­e Union müsste auf diplomatis­cher Ebene mehr dafür tun, um die Gespräche zwischen der kurdischen Regionalre­gierung und der Zentralreg­ierung in Gang zu bringen. Die Unterstütz­ung der Traumavers­orgung sollte außerdem dringend verstetigt werden. Nicht nur für die Frauen, sondern gerade für die Tausenden von Jungs – Jesiden, Christen, muslimisch­e Kurden, Sunniten und Schiiten – die vom IS indoktrini­ert und zum Teil militärisc­h ausgebilde­t wurden. Ein unter dem Dach der Vereinten Nationen aufgelegte­s Programm zur Reintegrat­ion wäre aus meiner Sicht essenziell, um ihnen überhaupt eine vernünftig­e Chance auf Rückkehr ins Leben zu ermögliche­n. Und um Sicherheit zu schaffen.

 ?? FOTO: UWE STEINERT ?? Setzt sich für jesidische Frauen ein: die Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock.
FOTO: UWE STEINERT Setzt sich für jesidische Frauen ein: die Grünen-Vorsitzend­e Annalena Baerbock.
 ??  ??
 ?? FOTOS (2): UWE STEINERT ?? Annalena Baerbock, Bundesvors­itzende der Grünen (links), im Gespräch mit Chefredakt­eur Hendrik Groth und Politikres­sortleiter­in Claudia Kling.
FOTOS (2): UWE STEINERT Annalena Baerbock, Bundesvors­itzende der Grünen (links), im Gespräch mit Chefredakt­eur Hendrik Groth und Politikres­sortleiter­in Claudia Kling.

Newspapers in German

Newspapers from Germany