In Idlib sind Hunderttausende bei Eiseskälte auf der Flucht
Truppen des syrischen Machthabers Baschar al-Assad marschieren weiter nach Norden
- Im Gegensatz zu anderen arabischen Diktatoren verzichtet Syriens Alleinherrscher Baschar alAssad meist auf große Worte. Seine Armee mache „bei der Befreiung des Landes große Fortschritte“, beschrieb der studierte Augenarzt unlängst in einem Interview mit „Paris Match“den Vormarsch seiner Truppen in der syrischen Provinz Idlib. Über die Vorgehensweise der von der russischen Luftwaffe unterstützten Armee verlor der Diktator kein Wort.
Denn Assad sieht „das Recht“auf seiner Seite. Dass nach Erkenntnissen der Vereinten Nationen gegenwärtig 235 000 Menschen auf der Flucht nach Norden sind, sei die Schuld der Betroffenen. Sie hätten mit der dschihadistischen Miliz Hayat Tahrir al-Scham, die noch immer große Teile von Idlib kontrolliert, kooperiert und müssten nun den Preis für „diesen Verrat“bezahlen.
Tatsächlich ist die aus dem Terrornetzwerk Al-Kaida hervorgegangene Miliz in Idlib inzwischen fast genauso unpopulär wie das AssadRegime. Hätten die rund drei Millionen Einwohner der Provinz Idlib die Wahl, würden die meisten von ihnen in die Türkei flüchten. Doch Ankara hat seine Grenzen zu Syrien hermetisch abgeriegelt. Die Flüchtlingslager südlich des Grenzzauns sind bereits seit Monaten überfüllt. Doch darauf nimmt Assad keine Rücksicht.
Um die seit dem Sommer 2012 geschlossene M5-Autobahn zwischen Aleppo und Damaskus wieder unter seine Kontrolle zu bringen, wurden mehr als 200 Dörfer und kleinere Städte wochenlang aus der Luft sowie mit den auch als „Stalinorgeln“bekannten Raketenwerfern bombardiert. Mehr als 150 Zivilisten kamen bei dem wahllosen Beschuss ums Leben. Unter ihnen waren mindestens 30 Kinder. Insgesamt seien in den ersten neun Monaten des Jahres mehr als 500 Kinder in der Region Idlib getötet oder verletzt worden, berichtet das UN-Kinderhilfswerk Unicef.
Die Lage der von der syrischen Armee vertriebenen Zivilisten ist dramatisch: In der Provinz Idlib sind in den letzten Tagen die Temperaturen unter den Gefrierpunkt gefallen. Trotzdem haben viele der Flüchtlinge kein Dach über dem Kopf. Viele Zelte sind nach schweren Schneeregenfällen überflutet. Es sei nur noch eine Frage von wenigen Tagen, bis Flüchtlinge erfrieren oder an den Folgen von Lungenentzündungen sterben, befürchten internationale Hilfsorganisationen. Sie dürfen nur noch bis zum 10. Januar 2020 die an der Grenze ausharrenden Flüchtlinge von der Türkei aus versorgen. Eine Verlängerung der entsprechenden UN-Resolution, die eine grenzüberschreitende Versorgung gestattet, hatte Russland mit seinem Veto verhindert.
Auf die humanitäre Katastrophe in der Provinz Idlib hatte am zweiten Weihnachtsfeiertag auch US-Präsident Donald Trump aufmerksam gemacht. Er warf Russland, Iran und Syrien vor, „Tausende von Unschuldigen umzubringen“. Die Türkei, verkündete Trump über den Kurznachrichtendienst Twitter, arbeite daran, das Gemetzel zu stoppen.
Eine von vielen Flüchtlingen herbeigesehnte Intervention der USArmee erwähnte der amerikanische Präsident nicht. Dafür würde die auf weniger als 400 Soldaten reduzierte Zahl der US-Truppen in Nordsyrien auch nicht ausreichen.