Wenn Wörter schmecken und Zahlen farbig sind
Bei Synästhetikern werden unterschiedliche Umweltreize im Gehirn verknüpft – Eine besondere, sinnliche Wahrnehmung der Welt
Wenn Christine Söffing in ein Klavierkonzert geht, lehnt sie sich zurück, schließt die Augen – und sieht blau. Streicht eine Geigerin den Bogen über die Saiten, wird es vor Söffings geistigem Auge grün. Bei allen Klängen bewegen sich zusätzlich fließende Formen, so beschreibt sie es selbst. „Ich sitze in den meisten Konzerten mit geschlossenen Augen, dann kann ich das Konzert besser sehen“, sagt die Künstlerin und Universitätsdozentin aus Neu-Ulm. Söffing ist Synästhetikerin: Bei ihr löst ein Sinnesreiz eine weitere Reizempfindung oder auch gleich mehrere aus.
Für Söffing sind Klänge also mit bestimmten Farben verbunden, und zusätzlich erscheinen zu den Tönen fließende Skulpturen. All dies verstellt nicht etwa ihr Sichtfeld, sondern läuft wie auf einem anderen Wahrnehmungskanal ab, wie sie erklärt. Entscheidend ist dabei, dass all dies bei Synästhetikern unbewusst abläuft und sie diese Wahrnehmung der Welt als normal empfinden. „Man riecht ja auch immer irgendetwas“, erklärt Söffing.
Oft bemerken Menschen ihre Synästhesie auch erst, wenn sie einen Artikel darüber lesen oder mit anderen ins Gespräch kommen. Und dann erstaunt feststellen, dass das Gegenüber
überhaupt keine Farben oder Formen bei Klängen wahrnimmt, um beim Beispiel zu bleiben.
„Synästhesie ist das Resultat einer spezifischen Vernetzung im Gehirn, die relativ selten vorkommt“, erklärt die Deutsche Synästhesie-Gesellschaft (DSG), deren zweite Vorsitzende Söffing einmal war. Die DSG verweist auf jüngste Studien, wonach etwa vier Prozent der Bevölkerung mindestens eine Form von Synästhesie
haben. Wegen einer Häufung in Familien nehmen Experten an, dass sie erblich ist. Synästhesie beruhe auf zusätzlichen neuronalen Verbindungen zwischen den einzelnen Sinnen. Das Wort selbst kommt vom griechischen „synaisthesis“(Mitempfindung).
Es gibt Dutzende Formen von Synästhesie. Der US-amerikanische Linguist, Anthropologe und Synästhetiker Sean A. Day geht von mindestens 73 verschiedenen bekannten Formen aus. Zu den häufigsten gehört nach DSG-Angaben die Graphem-Farb-Synästhesie, bei der Buchstaben oder Zahlen untrennbar mit einem Farbeindruck verbunden sind. Das heißt, die Ziffer 4 ist zum Beispiel immer grün, ein „E“immer rot, egal ob man sie sich begrifflich vorstellt oder gedruckt vor sich sieht.
Oder die Zeit-Raum-Synästhesie: Wochentage, Monate, das Jahr oder Ziffern haben eine bestimmte räumliche Anordnung beziehungsweise eine Position. Häufig ist laut DSG auch die Person-Farb-Synästhesie: Personen wird eine charakteristische Farbe oder auch eine Ziffer zugeordnet. Als ein berühmter Synästhetiker gilt zum Beispiel der russische Maler Wassily Kandinsky, der als „Gefühlssynästhetiker“Farben den Tönen zuordnete.
Die von Wissenschaftlern und Synästhetikern gegründete DSG betont, dass Synästhesie weder eine Krankheit noch eine Einbildung ist. Vielmehr zeigten MRT-Untersuchungen eine Aktivität in den verknüpften Gehirnarealen. „Auch hat man inzwischen herausgefunden, dass Synästhetiker eine veränderte
Gehirnstruktur, zum Beispiel eine dichtere graue Substanz in bestimmten Bereichen, aufweisen.“Dennoch scheuen sich manche Menschen, darüber zu reden. Weil es eben auch zu Reaktionen wie „Du spinnst ja!“kommen kann.
Als krank empfinden sich Synästhetiker auch nicht, sie bezeichnen ihre andere Art der Wahrnehmung oft als bereichernd. Offenbar gehäuft treten nach Angaben der DSG bei Synästhetikern Hochbegabung, Hochsensibilität und hohe Kreativität, zugleich allerdings auch Aufmerksamkeitsstörungen und räumliche Orientierungsschwierigkeiten auf. Außerdem könne es wegen der zusätzlichen Wahrnehmung rascher zu Reizüberflutungen kommen.
Manche Menschen nutzen ihre Synästhesie gezielt, wie beispielsweise Christine Söffing. Sie beschäftigt sich nicht nur als Dozentin mit dem Thema und veranstaltet Workshops dazu. Sie leitet zudem die Gruppe Experimentelle Musik & Kunst (EMU). „Eine Komposition ist bei mir auf mehreren Ebenen stimmig.“Wenn sie zum Beispiel akustisch in Ordnung sei, aber nicht optisch, müsse sie noch einmal nachbessern. Christine Söffing, im Vorstand der internationalen Synästhesie-Gesellschaft, sagt stolz: „Diese Musik kann ich nur mit meiner Synästhesie machen.“
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Ich sitze in den meisten Konzerten mit geschlossenen Augen, dann kann ich das Konzert besser sehen.
Christine Söffing beschreibt, wie sie als Synästhetikerin Musik wahrnimmt