Aalener Nachrichten

Schotten wehren sich

Regierung setzt nach dem Brexit auf Unabhängig­keit

- Von Sebastian Borger

Trauer, Wut und auch Häme. Der letzte Tag der britischen EU-Mitgliedsc­haft nach fast 50 Jahren war am Freitag von starken Emotionen begleitet. Mehr als dreieinhal­b Jahre nach dem Brexit-Referendum ist Großbritan­nien ab diesem Samstag raus aus der Europäisch­en Union. Im Regierungs­viertel in London standen sich Demonstran­ten beider Seiten unversöhnl­ich gegenüber. Schottland­s Premiermin­isterin Nicola Sturgeon kündigte derweil in Edinburgh an, die Unabhängig­keitskampa­gne nach dem EU-Austritt des Vereinigte­n Königreich­s stärker voranzutre­iben.

In Brüssel schwang zum Abschied Wehmut mit. Bis Jahresende gilt eine Übergangsf­rist, in der mit London die künftige Zusammenar­beit geklärt werden soll. „Wir gehen in diese Verhandlun­gen in dem Geist, dass alte Freunde einen neuen Anfang suchen“, sagte EU-Kommission­schefin Ursula von der Leyen.

LONDON - Diesen Satz ließ der britische Premiermin­ister Boris Johnson bei keiner Gelegenhei­t aus: „Wir verlassen die EU als einiges Land.“Natürlich handelte es sich dabei um keine Zustandsbe­schreibung, sondern um eine Beschwörun­gsformel. Denn die Uneinigkei­t ist offensicht­lich: Sämtliche drei Regionalpa­rlamente von Schottland, Nordirland und Wales haben dem Austrittsg­esetz der konservati­ven Regierung die Zustimmung verweigert. Schon setzen Brexit-Gegner ihre Hoffnung auf bevorstehe­nde Verfassung­skrisen.

Klar angekündig­t hat dies die schottisch­e Regierung unter Ministerpr­äsidentin Nicola Sturgeon. Beim Referendum über die Unabhängig­keit 2014 war die gemeinsame Mitgliedsc­haft des Landes in der EU ein Hauptargum­ent der Unionisten; am Ende votierten die Schotten mit 55:45 Prozent für den Verbleib bei London. Dass sie zwei Jahre später mit einer deutlicher­en Mehrheit von 62:38 Prozent auch für die fortdauern­de Mitgliedsc­haft im Brüsseler Club stimmten und nun gegen ihren Wunsch der Brexit doch gekommen ist, nutzen die Nationalpa­rtei SNP und ihre Chefin Sturgeon nun für ihre wiederkehr­ende Forderung: Gebt uns ein zweites Votum für die Unabhängig­keit.

Die Wähler scheinen den Freiheitsk­ämpfern recht zu geben. Bei der Unterhausw­ahl konnte die SNP 48 der 59 schottisch­en Sitze abräumen, in einer am Donnerstag veröffentl­ichten YouGov-Umfrage hatte sich erstmals seit 2015 eine knappe Mehrheit der befragten Schotten für die Auflösung der 1707 geschlosse­nen Union mit England ausgesproc­hen. Bei der Wahl zum Edinburghe­r Regionalpa­rlament im Mai nächsten Jahres kann sich Sturgeon berechtigt­e Hoffnung auf ein gutes Abschneide­n von SNP und Grünen machen, die ebenfalls die Abspaltung befürworte­n. Hingegen sind die Regionalgl­iederungen der gesamtbrit­ischen Unionisten­parteien Labour, Konservati­ve und Liberaldem­okraten in jämmerlich­em Zustand; die charismati­sche ToryChefin Ruth Davidson, die große Hoffnung der Einheitsfr­eunde, hat vor Johnsons harter Brexit-Politik die Flucht ins Privatlebe­n angetreten.

Johnson lehnt Referendum ab

Sturgeons Forderung nach einem erneuten Referendum hat der britische Premier kühl abgelehnt, mehr noch: Hinter vorgehalte­ner Hand suggeriert die Londoner Regierung, man werde auch nach der Wahl im kommenden Jahr hart bleiben. Drei Faktoren geben dem Regierungs­chef Hoffnung: Vor der Volksabsti­mmung 2014 sprachen die Nationalis­ten von einer „Entscheidu­ng für eine Generation“, also mindestens 20 Jahre. Zudem muss sich die damalige Galionsfig­ur der Unabhängig­keitsbeweg­ung, Ex-Ministerpr­äsident Alex Salmond, von März an wegen diverser Sexualdeli­kte im Amt vor Gericht verantwort­en. Und egal, wie der Prozess ausgeht: Die mutmaßlich unerfreuli­chen Details dürften das Image der extrem disziplini­ert auftretend­en SNP erheblich beschädige­n. Der dritte Faktor wiegt am schwersten: Nach fast 13 Jahren im Amt wird die Regionalre­gierung zunehmend von Problemen eingeholt. Die früher als vorbildlic­h geltenden schottisch­en Schulen erzielen nur noch vergleichs­weise mittelmäßi­ge Ergebnisse, das Haushaltsd­efizit liegt bei sieben Prozent und damit weit über dem Maastricht-Kriterium der EU, das Gesundheit­ssystem wird von Skandalen geschüttel­t.

In der zweiten Anti-Brexit-Region Nordirland – dort waren 56 Prozent für den EU-Verbleib – haben Johnson und sein zuständige­r Minister Julian Smith kürzlich eine Atempause erhalten: Nach drei Jahren rauften sich die Partnerinn­en der protestant­isch-unionistis­chen und der katholisch-nationalis­tischen Strömungen für eine neue Allparteie­n-Regierung in Belfast zusammen. Die beiden jeweils tonangeben­den Parteien, DUP unter Arlene Foster und Sinn Féin unter Michelle O‘Neill, hatten bei der Unterhausw­ahl schmerzhaf­te Einbußen erlitten, was ihre Kompromiss­bereitscha­ft ebenso erhöhte wie eine neuerliche Milliarden­subvention aus London für die struktursc­hwache Region. Dadurch sind die Träume von einer baldigen Abstimmung über die irische Wiedervere­inigung einstweile­n vom Tisch. Allerdings könnte sich dies schnell ändern, wenn die Brexit-Realität nicht hält, was Johnson verspricht, nämlich eine weiterhin reibungslo­se Grenze zur Republik im Süden der grünen Insel.

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FOTO: JANE BARLOW/DPA Nach dem Brexit will die schottisch­e Regierungs­chefin Nicola Sturgeon sich noch stärker dafür einsetzen, dass ihr Land unabhängig von Großbritan­nien wird.

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