Aufklärer
Noch im hohen Alter hat Alfred
Grosser sich mit der Frage der Identitäten auseinandergesetzt – zumal er selbst ein Wanderer zwischen den Welten ist. Am Samstag wird der in Frankfurt geborene Sohn einer jüdischen Familie, die 1933 nach Frankreich emigrierte, 95 Jahre alt.
Grosser ist Aufklärer, Moralpädagoge, Prediger: Jeder habe unzählige Identitäten, analysiert er. Er selbst sei Franzose durch und durch – trotz deutscher Herkunft. Und: „Ich bin ein jüdisch geborener, christlich beeinflusster Atheist“, sagt er von sich. Immer wieder präsentierte er sich deshalb auch als kritischer Beobachter der Kirchen. Während des Zweiten Weltkriegs war der nichtgläubige Jude von Jesuiten unterstützt worden – unter der Bedingung, sich taufen zu lassen.
Das Entscheidende sei, dass man seine eigenen Identitäten kritisch hinterfrage und sein Gegenüber nicht auf kollektive Identitäten festlege: die Engländer, die Juden, die Moslems, die Flüchtlinge, die Katholiken… Das „die“werde missbraucht, um mit dem Finger auf andere zu zeigen, sie abzuwerten und einem „wir“gegenüberzustellen. Man könnte auf diese Zuschreibungen gut verzichten, wenn man den anderen schlicht als Menschen betrachten würde.
Kurz nach dem Krieg sowie Politik- und Germanistikstudium begann Grosser, sich für die Aussöhnung von Franzosen und Deutschen zu engagieren. Später war er im deutschen Fernsehen ein gern gesehener Gesprächspartner, unter anderem im „Internationalen Frühschoppen“von Werner Höfer. Als Höfer 1987 wegen seiner früheren Artikel für das NS-Propagandablatt „Das Reich“gehen musste, war es Grosser, der an die Verdienste Höfers erinnerte.
Bis 1992 lehrte Grosser als Professor an der Pariser Elitehochschule Sciences Po. 37 Bücher hat er veröffentlicht. 2014 hielt er im Bundestag die Gedenkrede zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 100 Jahre zuvor. Für seine Rolle als Mittler zwischen Deutschen und Franzosen wurde er vielfach geehrt. 1975 bekam er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (KNA)