„Es ist wichtig, hartnäckig zu bleiben“
Die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen ist 2019 auf einen Tiefstand gesunken. Erstmals haben sich in Deutschland weniger als 600 000 Jugendliche um einen dualen Ausbildungsplatz bemüht. Folglich wurden auch weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen. Das sind Ergebnisse der Analysen des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB). Tanja Schuhbauer hat Joachim Gerd Ulrich aus dem BIBBArbeitsbereich „Berufsbildungsangebot und -nachfrage, Bildungsbeteiligung“zur Ausbildungssituation in Baden-Württemberg befragt.
Warum geht in Baden-Württemberg die Zahl der Ausbildungsverträge zurück?
2019 gab es mit 74 100 tatsächlich 1200 Verträge weniger als im Vorjahr. Das entspricht einem Rückgang von 1,6 Prozent. In den meisten anderen Bundesländern entwickelt sich das ähnlich. Die Ausbildungsmärkte schrumpften, weil Arbeitgeber aufgrund der verhaltenen Konjunktur, aber vermutlich auch wegen chronischer Besetzungsprobleme in manchen Berufen, weniger Stellen anboten. Gleichzeitig sank die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen. Dies liegt zum einen an den veränderten Berufswünschen der Jugendlichen und zum anderen an der demografischen Entwicklung mit sinkenden Schulabgängerzahlen.
Oft liegt es auch daran, dass Bewerber und Betrieb nicht zusammenpassen: 2019 blieben knapp 9000 Lehrstellen im Südwesten unbesetzt, während mehr als 1000 Bewerber leer ausgingen.
Das stimmt, und das Ausmaß ist sogar noch größer: Neben den gut 1000 unversorgten Bewerbern gab es 2019 noch weitere 7500 Bewerber, die erfolglos gesucht hatten und dann auf Alternativen wie ein erneuter Schulbesuch, Praktika oder ein Studium auswichen. Im Grunde liefen somit auf beiden Seiten des Marktes jeweils rund 8500 Versuche ins Leere.
Warum finden Ausbilder und Bewerber häufig nicht zusammen?
Viele Betriebe bieten Lehrstellen in Berufen an, die Jugendliche nicht mehr wollen. Umgekehrt drängen Jugendliche in Berufe, in denen der Bedarf in diesem Maße nicht gegeben ist. Dass die Jugendlichen sich nicht mehr so flexibel wie früher an den Bedarf der Wirtschaft anpassen, hat mit veränderten Ansprüchen zu tun: Im Schnitt haben Jugendliche heute deutlich höhere Schulabschlüsse, und Abiturienten wollen keine vermeintlichen Hauptschülerberufe erlernen.
Was muss passieren, damit die Balance wieder stimmt?
Die Schwierigkeit besteht darin, die Attraktivität vermeintlich typischer Hauptschülerberufe wie
Klempner, Bäcker, Fleischer, Restaurantfachmann oder Beton- und Stahlbetonbauer so zu steigern, dass sie für Jugendliche mit höheren Schulabschlüssen ähnlich attraktiv sind wie Mediengestalter, Laborant, Veranstaltungskaufmann oder Gestalter für visuelles Marketing. Dass das bislang nicht klappt, mag auch an Arbeitsbedingungen und Bezahlung liegen. Aber das ist es nicht alleine. Ein wichtiger Grund ist auch die fehlende gesellschaftliche Anerkennung in manchen Berufen, gerade auch in jenen, in denen noch körperlich gearbeitet wird.
Was können Bewerber tun, die leer ausgegangen sind?
Ich empfehle, die Vorqualifikationen zu erweitern, zum Beispiel durch einen weiteren Schulbesuch. Es ist wichtig, hartnäckig zu bleiben. Das fällt Betrieben bei der nächsten Bewerbungsrunde positiv auf. Wer klug ist, fährt von vornherein mehrgleisig und bewirbt sich nicht nur im Wunschberuf, sondern auch in ähnlichen Berufen, die weniger überlaufen sind. Wer zum Beispiel Einzelhandelskaufmann werden möchte, mag sich vielleicht auch für den Weg als Fachverkäufer im Lebensmittelhandwerk erwärmen.
Wie haben sich Angebot und Nachfrage langfristig entwickelt?
Für Jugendliche hat sich die Chance auf einen Ausbildungsplatz in den letzten zehn Jahren deutlich verbessert. Die Betriebe buhlen um Nachwuchs: Insgesamt hätten sie 2019 gerne neun Prozent mehr Auszubildende eingestellt als noch zehn Jahre zuvor. Doch die Nachfrage hat sich anders entwickelt: Sie war 2019 vier Prozent niedriger als 2009. Der Wettbewerb der Betriebe um die Jugendlichen hat sich damit verschärft.
Welche Rolle kam Flüchtlingen zu, um diese Lücke zu schließen?
Die Tatsache, dass wir 2017 und 2018 gegen den langfristigen demografischen Trend in ganz Deutschland eine steigende Ausbildungsplatznachfrage verbuchen konnten, ist ohne Zweifel einer wachsenden Zahl von ausbildungswilligen Flüchtlingen zu verdanken. 2019 stieg deren Zahl jedoch nicht mehr an, sondern verharrte auf dem Niveau des Vorjahres. Damit konnte die sinkende Nachfrage einheimischer Jugendlicher nicht mehr vollständig kompensiert werden.
Wie wirkt es sich aus, dass inzwischen weniger Flüchtlinge kommen?
Eine Umkehr in der demografischen Entwicklung Deutschlands ist nicht in Sicht. Denn die Geburtenrate ist weiterhin sehr niedrig. Dies bedeutet, dass wir weiterhin auf Zuwanderung angewiesen sind. Wenn wir die Auszubildendenzahlen stabil halten wollen, sollten unter den Zugewanderten gerade auch viele junge Menschen sein.
In welchen Branchen verändert sich die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge besonders stark?
Im Bausektor, der Fertigung sowie in Fachangestelltenberufen der Humanund Tiermedizin nimmt die Zahl der Verträge zu. Rückgänge beobachten wir im Lebensmittelhandwerk, im Einzelhandel, im Hotelgewerbe, in der Gastronomie und in den Friseurgeschäften.
In welchen Berufen vergrößert sich das Ausbildungsplatzangebot?
Zugenommen hat, unter anderem als Folge der guten Auftragslage im Handwerk, der Bedarf an Auszubildenden in Berufen des Bausektors und der Fertigung. So gab es deutlich mehr Angebote in den Berufen Mechatroniker, Dachdecker, Zimmerer oder Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik. Stark gesucht werden auch Fachinformatiker.
Im Südwesten ist mehr als jeder fünfte Ausbildungsvertrag verkürzt. Warum?
In Deutschland können bei Abschluss des Ausbildungsvertrages bestimmte Vorqualifikationen angerechnet werden. Tatsächlich kommt das in Baden-Württemberg besonders häufig vor, denn viele erlernen die Inhalte des ersten Ausbildungsjahres in Berufsfachschulen.
Somit fällt der Anteil der verkürzten Verträge besonders hoch aus – so hoch wie in keinem anderen Bundesland. 2019 waren es 21 Prozent, während es in Sachsen nur sieben Prozent waren.