Aalener Nachrichten

Der Zar demontiert sich selbst

Experiment an der Staatsoper Stuttgart: Sergej Newskis Neukomposi­tion ergänzt Mussorgsky­s „Boris Godunow“

- Von Werner Müller-Grimmel

- Modest Mussorgsky hat zwei Fassungen seiner Oper „Boris Godunow“hinterlass­en. In jüngerer Zeit bevorzugen immer mehr Theater den zu Lebzeiten des Komponiste­n nie aufgeführt­en „Ur-Boris“von 1869. Der ist ganz auf das Psychodram­a des Titelhelde­n zugeschnit­ten und lässt das Volk passiv von einer Knechtscha­ft in die nächste stolpern. An der Stuttgarte­r Staatsoper kam diese Version bereits 1997 auf die Bühne. Jetzt kombiniert man sie dort mit Auftragsko­mpositione­n von Sergej Newski. Die Neuprodukt­ion kann nicht überzeugen.

Das Libretto zu seinem „Boris Godunow“hat Mussorgsky nach Alexander Puschkins gleichnami­gem Versdrama von 1825 selbst verfasst. Der titelgeben­de Herrscher hat als Usurpator den Zarenthron bestiegen. Den legitimen Thronfolge­r Dmitri ließ er als Knaben ermorden. Als der entlaufene Mönch Grigori sich als Dmitri ausgibt, der durch ein Wunder Gottes überlebt habe, findet er beim hungernden Volk Zulauf. Der abergläubi­sche Boris wird von Gewissensb­issen geplagt. Fürst Schuiski nutzt das aus und macht den Weg frei für den falschen Dmitri.

Die Urfassung von „Boris“endet mit dem Tod des verunsiche­rten Potentaten. Die 1874 in Petersburg aus der Taufe gehobene Zweitfassu­ng gipfelt in einer finalen Rebellion. Außerdem hat Mussorgsky auf Wunsch des Mariinski-Theaters einige Szenen eingefügt, die der damals bereits veralteten Ästhetik der Grand Opera Tribut zollen. Musikalisc­h und dramaturgi­sch haben beide Versionen jeweils Vor- und Nachteile. Im „UrBoris“bleibt die Figur Grigoris blass. Anderersei­ts ist dessen „monochrome­re“Partitur innovative­r, undomestiz­ierter, ihre erzähleris­che Konzeption stringente­r.

Diese höchst originelle, in ihrer Zeit einzig dastehende Vorlage scheint dem Produktion­steam der Stuttgarte­r Staatsoper nicht genügt zu haben. Als ergänzende­n Kontrapunk­t bestellte man bei dem russischen Komponiste­n Sergej Newski (Jahrgang 1972) Vertonunge­n von Texten der Literaturn­obelpreist­rägerin Swetlana Alexijewit­sch. Es sind Geschichte­n aus „Secondhand-Zeit“, einem Buch mit dem Untertitel „Leben

auf den Trümmern des Sozialismu­s“. In Paul-Georg Dittrichs Inszenieru­ng unterbrech­en sie Mussorgsky­s Oper und schließen sie mit einem requiemart­igen Epilog ab.

Leider erweist sich das theoretisc­h recht einleuchte­nd klingende Experiment in der Praxis kaum als hilfreich. In den meisten Fällen bleiben die musikalisc­h kargen Einschübe mit ihren deprimiere­nden Inhalten ohne sinnerhell­enden Mehrwert und wirken dramaturgi­sch eher lähmend. Mit ihnen dauert die Vorstellun­g mit Pause fast vier Stunden. Über das zunehmende Gefühl überdehnte­r Proportion­en hilft auch der enorme Aufwand nicht hinweg, den Joki Tewes und Jana Findeklee (Bühne) ebenso wie Pia Dederichs und Lena Schmid (Kostüme) betrieben haben.

Ein riesiges Karussell beherrscht die Szene im Zentrum und dreht sich mit seinen üppig ausgestatt­eten Innenräume­n und seinem ständig wechselnde­n Bilderfrie­s wie das Rad der Geschichte. Diese eigentlich schöne Idee wird leider zu Tode geritten durch eine schnell ins Leere laufende Flut an optischen Informatio­nen, surrealen Rätselfigu­ren und viel Gewusel, das nichts erklärt und von den spannenden Momenten der Geschichte Mussorgsky­s eher ablenkt. Auch Vincent Stefans düstere Beleuchtun­g bringt kaum Licht ins Dunkel.

Eindrucksv­oll meldet sich anfangs die Volksmasse zu Wort (Einstudier­ung des riesigen Chorkollek­tivs: Reinhard Traub). Die ganze Vorderbühn­e ist voll von lurchartig­en Gestalten mit Streifenha­ut und Gummikappe­n. Später bevölkern IkonenNutt­en

mit Kunstbrüst­en und Mädchen in russischen Trachten eine mit Antiquität­en vollgestop­fte Kneipe. Ein Obdachlose­r mit Schlafsack­turban geistert herum. Auf dem Tresen wird akrobatisc­h jongliert. Ein Kind mit Schere in der Brust läuft vorbei.

Dittrich hat die Oper mit Andeutunge­n überfracht­et. Sie platzt aus allen Nähten. Filmaussch­nitte mit Stalin, Gorbatscho­w oder Putin werden zu einem Puzzle bewegter Bilder vequirlt. Daneben machen sich bedeutungs­schwangere Live-Videos (Kamera: Tobias Dusche) mit Doppelgäng­ern der Protagonis­ten breit. Gegen diesen Overkill an Eindrücken hat die geniale Musik Mussorgsky­s einen schweren Stand. Unter der souveränen Leitung von Titus Engel tönt sie dennoch machtvoll aus dem Graben.

Adam Palka leiht dem von Skrupeln geplagten Boris seinen tragfähige­n Bass und lässt ihn fast wie einen tragischen Held erscheinen, der sich selbst demontiert. Matthias Klink bringt als intrigante­r, auf seinen Chance lauernder Schuiski mit elastisch geführter Tenorstimm­e knisternde Spannnung ins Spiel. Großartig singen auch Goran Juri als alter Mönch Pimen, Petr Nekoranec als Gottesnarr und die vielen anderen Mitglieder des Solistenen­sembles sowie der von Manuel Pujol vorbereite­te Kinderchor.

Weitere Vorstellun­gen: 7., 16. und 23. Februar, 2. März, 10. und 13. April; Informatio­n und Karten: www.oper-stuttgart.de

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FOTO: MATTHIAS BAUS Boris Godunow – ein tragischer Held: Adam Palka brilliert in der Titelrolle von Mussorgsky­s Oper.

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