Lindner versucht die Flucht nach vorne
FDP-Chef stellt nach Kemmerich-Desaster in Thüringen die Vertrauensfrage – und greift die CDU an
- Die alte „preußische Beschwerdeordnung“spielt in der Politik selten eine Rolle. Sie besagt, dass man erst eine Nacht überschlafen sollte, bevor man sich beschwert. Doch am Donnerstagnachmittag führt FDP-Bundesparteichef Christian Lindner die Beschwerdeordnung als Beispiel für den Sinneswandel seines Thüringer Kollegen Thomas Kemmerich an, doch nicht Ministerpräsident des Landes sein zu wollen. Kemmerich habe eine Nacht über die Entscheidung schlafen müssen.
Der war am Mittwoch mithilfe der AfD-Fraktion des Faschisten Björn Höcke zum Regierungschef des Landes gewählt worden – und hatte einen bundesweiten Proteststurm ausgelöst. Einen Nachmittag später kündigt Kemmerich seinen Rücktritt und die FDP-Fraktion einen Vorstoß zur Landtagsauflösung an.
Kurz danach stellt sich Lindner in Erfurt vor die Presse – und flüchtet selbst nach vorne: Der Parteichef kündigt für den nächsten Tag eine Sondersitzung des FDP-Bundesvorstands in Berlin an – bei der er die Vertrauensfrage stellen will. Es sei durch die Ereignisse in Thüringen „eine Lage entstanden, in der auch die Bundesparteiführung der FDP neu legitimiert werden muss“, sagt Lindner.
Der Parteichef verbindet zudem sein berufliches Schicksal mit der Frage, wie es die Liberalen mit den Rechten halten: „Ich würde als Parteivorsitzender mein Amt nicht fortsetzen können, wenn eine Gliederung, auch nur eine regionale Gliederung der Freien Demokraten, systematisch eine Zusammenarbeit mit der AfD anstrebt oder auch nur eine Abhängigkeit in Kauf nimmt von dieser Partei“, sagt er.
„Jetzt brennt die ganze FDP“
Die Vertrauensfrage ist der Versuch, den Schaden des Kemmerich-Alleingangs für die Partei zu begrenzen. Und der ist gewaltig: Im ganzen Land verzeichnen die Liberalen Parteiaustritte. Kemmerich habe mit dem Feuer gespielt und „jetzt brennt die ganze FDP“, gab der frühere Innenminister Gerhart Baum am Mittwoch bei der „Zeit“zu Protokoll. Baum gab dabei auch Lindner die Schuld, denn der hatte sich noch kurz nach der Wahl offen für Kemmerichs Idee einer „Mitte“-Regierung von FDP, CDU, SPD und Grünen in Erfurt ausgesprochen. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki hatte Kemmerich sogar begeistert gratuliert. Und auch der Gewählte selbst hielt noch am Donnerstagmorgen an seinem Amt fest – bis Lindner ihn ins Gebet nahm. Unterdessen wuchs das Entsetzen bei den Liberalen: „Mit jeder Stunde, in der Kemmerich im Amt bleibt, nährt die Thüringer FDP Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der Gesamtpartei“, twitterte Innenpolitiker Konstantin Kuhle am Mittag.
Für die FDP geht es um sehr viel. 2013 war sie aus dem Bundestag geflogen. Kritiker warfen den Liberalen egomanische Machtgier bei gleichzeitiger Inhaltsleere vor. Lindner brauchte Jahre, um das abzuschütteln. Und lange achtete die Partei peinlichst darauf, den Eindruck von Machtversessenheit zu vermeiden. In Ländern wie BadenWürttemberg und Niedersachsen verzichtete man auf ernsthafte Koalitionssondierungen. Und im Bund ließ Lindner die Jamaika-Verhandlungen mit einem berühmten Satz platzen: „Besser nicht regieren als falsch regieren“. Und nun ist die alte
FDP wieder da: In Form eines Notkandidaten, der angeblich zufällig dank Höcke-AfD und CDU zum Ministerpräsident wird. Und das kurz vor der Hamburg-Wahl am 23. Februar, wo die Liberalen bisher nur knapp über der Fünf-Prozent-Hürde liegen.
Und es gibt offene Fragen: Ist die Wahl Kemmerichs wirklich „eine unfallweise zustande gekommene Kooperation mit der AfD“, wie Lindner in den Raum stellt? Am Abend zuvor hatte Kemmerich durchblicken lassen, dass es doch Absprachen gab.
Auf die schießt sich Lindner ein: „Wir als Freie Demokraten haben die Situation geklärt. Das erwarten wir nun auch von der Union und ihrer Bundesvorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer“, sagt er. Die müsse sich nun äußern, wie die CDU in Thüringen zur AfD stehe.
Ein Vertrauensentzug droht Lindner am Freitag in Berlin wohl nicht. Zwar habe man dank Kemmerich nun erstmal „die Torte im Gesicht“, wie ein Bundesparteivorstand sagt. Doch Lindner habe in Thüringen richtig auf den Tisch gehauen.
Mehrere Landesverbände wollen ihn stützen, auch Baden-Württembergs Parteichef Michael Theurer. „Die Kandidatur Kemmerichs ist nicht mit Billigung der Bundes-FDP erfolgt. Im Gegenteil: Christian Lindner hat die Thüringer ausdrücklich davor gewarnt“, sagt er der Schwäbischen Zeitung“.
„Ich kann nur empfehlen, die Vertrauensfrage mit ,Ja‘ zu beantworten“, sagt der Ravensburger FDP-Abgeordnete Benjamin Strasser. Die Partei habe in Thüringen Vertrauen verspielt, sagt der Innenpolitiker. Er selbst sei „fassungslos“über die Wahl Kemmerichs gewesen. Doch der klare AntiAfD-Kurs Lindners sei richtig: „Wir müssen immer wieder klarmachen, dass wir mit diesen Leuten nichts zu tun haben wollen“, sagt Strasser.