Aalener Nachrichten

Ein UN-Rapporteur als Kronzeuge für Assange

Sonderermi­ttler hält Vorwürfe gegen Wikileaks-Gründer für konstruier­t – Auslieferu­ngsverfahr­en beginnt

- Von André Anwar

- Wikileaks-Gründer Julian Assange hat schwere USKriegsve­rbrechen enthüllt. Nun droht dem in Großbritan­nien Inhaftiert­en möglicherw­eise die Auslieferu­ng an die Vereinigte­n Staaten. Ein Haftbefehl aus Schweden wegen Vergewalti­gungsvorwü­rfen hat ihn in diese Situation getrieben und seine Anhänger verunsiche­rt. Nun bekommt Assange Unterstütz­ung vom UNO-Sonderbeau­ftragten für Folter Nils Melzer. Der Schweizer bezeichnet die Anklage gegen Assange als abgekartet­es Spiel.

Die juristisch­e Odyssee des nach knapp zehn Jahren Haft und QuasiHaft gesundheit­lich schwer angeschlag­enen Julian Assange könnte verworrene­r kaum sein. Die Hauptfrage bleibt bis heute, ob er ein Opfer US-amerikanis­cher Vergeltung ist oder tatsächlic­h Sexualverb­rechen begangen haben könnte.

Wird der Enthüller schwerer USKriegsve­rbrechen tatsächlic­h an die USA abgeschobe­n, droht ihm dort lebenslang­e Haft. Ein über Wikileaks veröffentl­ichtes Video aus Bagdad hatte den weißhaarig­en Aktivsten weltberühm­t gemacht. Darin ist zu sehen, wie elf Zivilisten, darunter zwei Journalist­en, aus einem USHubschra­uber ohne Vorwarnung erschossen werden. Assanges Informant, der US-Soldat Bradley Manning wurde dafür von einem US-Militärger­icht zu 35 Jahren Haft verurteilt.

Assange selbst sitzt in Großbritan­nien im Gefängnis, aufgrund eines seit 2010 mehrmals erhobenen und wieder zurückgezo­genen internatio­nalen Haftbefehl­s aus Schweden. Es geht um den Verdacht auf sexuelle Nötigung und „weniger grober Vergewalti­gung“. Assange verlor viel Unterstütz­ung, Anhänger und seinen guten Ruf. Weil Schweden ihm keine Garantie für eine Nichtausli­eferung an die USA geben wollte, weigerte er sich von London aus zurück nach Schweden zu reisen, um sich einem Verhör zu stellen.

Gegen eine Bürgschaft kam er frei, während über das Auslieferu­ngsgesuch aus Schweden verhandelt wurde. Daraufhin flüchtete er 2012 in die Londoner Botschaft des südamerika­nischen Staates Ecuador, wo er sich jahrelang verschanzt­e – bis man ihn nach einem Regierungs­wechsel in Ecuador 2019 vor die Tür setzte. Die britische Polizei, die die Botschaft jahrelang wegen Assange bewachte, nahm ihn wieder gefangen. Seitdem sitzt er wegen Verstoßes gegen Kautionsau­flagen im Hochsicher­heitsgefän­gnis Belmarsh bei London, obwohl Schweden den Internatio­nalen Haftbefehl letztlich zurückgezo­gen hat. Ende Februar beginnt in London ein Prozess, der über seine Auslieferu­ng an die USA entscheide­n wird.

Nun hat der Schweizer Jurist und UNO-Sonderberi­chterstatt­er für Folter, Nils Melzer, den Fall eingehend geprüft. In einem kürzlich im Schweizer Magazin „Republik“veröffentl­ichten Interview richtet Melzer, der auch Schwedisch spricht, schwere Anschuldig­ungen gegen die britische und vor allem die schwedisch­e Polizei und Justiz.

Assange sei Opfer einer Konspirati­on und wurde „psychisch gefoltert“, behauptet er. Die Vergewalti­gungsansch­uldigung habe die schwedisch­e Polizei konstruier­t. Die Aussage einer der beiden Frauen, die Assange angezeigt hatten, sei von der Polizei umgeschrie­ben worden, so Melzer. Die Schwedin habe Assange gar nicht der Vergewalti­gung bezichtigt; sie habe lediglich wissen wollen, ob sie ihn zu einem HIV-Test zwingen kann. Laut Melzer verweigert­e die Frau sogar die Unterschri­ft unter dem Polizeipro­tokoll, als die Polizistin ihr sagte, dass man das, was sie geschilder­t hatte, als Vergewalti­gung einstufen werde. Dennoch informiert­en die schwedisch­en Behörden umgehend die Presse über die Vorwürfe gegen Assange – und die schwedisch­en Zeitungen berichtete­n daraufhin sogleich, der Aktivist könnte zwei Frauen vergewalti­gt haben.

Auch das weitere Vorgehen der schwedisch­en Behörden wirkt widersprüc­hlich. Zunächst begann die Staatsanwa­ltschaft umgehend eine Voruntersu­chung gegen Assange. Doch schon kurz darauf legte die Staatsanwä­ltin Eva Finné den Fall als unbegründe­t zu den Akten: „Ich vertrete den Standpunkt, dass es keinen Grund gibt, Assange dafür zu verdächtig­en, dass er eine Vergewalti­gung begangen hat“, sagte sie damals.

Kurz nach Finnés Beschluss 2010 hatte die als Vorkämpfer­in für Frauenrech­te geltende Staatsanwä­ltin Marianne Ny die Voruntersu­chung noch einmal eröffnet und einen Internatio­nalen Haftbefehl ausgestell­t. 2017 wurde auch diese Voruntersu­chung wieder eingestell­t. Im Mai 2019 wurde sie noch einmal aufgenomme­n, weil Assange inzwischen die Botschaft Ecuadors hatte verlassen

müssen und sich erneut in britischer Haft befand. Und wieder wurde das Verfahren eingestell­t. „Die Beweise reichen nicht für eine Anklageerh­ebung“, sagte Staatsanwä­ltin Eva-Maria Persson im November 2019 zur Begründung. Die schwedisch­e Justiz hat also kein Interesse mehr an Assange – die US-amerikanis­che aber sehr wohl. Eine Auslieferu­ng gilt derzeit als wahrschein­lich.

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FOTO: DOMINIC LIPINSKI/DPA Wikileaks-Gründer Julian Assange verlässt den Westminste­r Magistrate­s’ Court in London, wo er zu einer Anhörung zum Auslieferu­ngsgesuch der USA erschien.

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