Lesen Esel?
Normalerweise läuft man vorwärts. Auch beim Lesen orientiert man sich gemeinhin nach vorne. Aber reizvoll kann auch das Rückwärtslesen sein. So hatten wir am letzten Sonntag ein sehr originelles Datum: 02.02.2020. Ob von vorne gelesen oder von hinten, es blieb sich gleich – die Satzzeichen ausgeblendet. Palindrom nennt man dieses Phänomen, von griechisch palindromos (rückwärts laufend). Wir kennen es bei Daten und Telefonnummern, desgleichen in der Informatik mit ihren Zeichenreihen. In der Genetik kommen palindromische Sequenzen bei DNA-Ketten vor, und in der Musik gibt es sie ebenfalls. Besonders beliebt war das Rückwärtsspielen von Notenpassagen im Barock– etwa beim Krebs-Kanon in Bachs „Musikalischem Opfer“. Beliebte Spielwiese für die Freunde von Palindromen ist allerdings die Sprache. Lupenrein sind die Wortpalindrome, bei denen sich rückwärts gelesen dasselbe Wort ergibt. Dazu gehören die Namen Anna, Bob und
Otto, die Verben nennen und neppen, außerdem Rentner, Ebbe, Uhu, Marktkram, Egge, Reittier, Teebeet und – eine afrikanische Besonderheit – der Gnudung. Manche vielzitierten Palindrome wirken etwas bemüht, so auch der Reliefpfeiler – ein in der Kunstgeschichte eher ungewöhnlicher Begriff. Auch Regiegeiger findet man wohl in keinem Orchester, und Retsinakanister sind sicher nicht die Norm in Griechenland. Palindromologen
schätzen auch Wörter, die rückwärts gelesen ein anderes sinnvolles Wort ergeben wie bei Gras/Sarg, Leben/Nebel, Lager/Regal, Amok/Koma oder Eber/Rebe. In Amme und Adel verstecken sich weibliche Vornamen. Und auch Wörter wie Pils und Agnat, der männliche Blutsverwandte, entpuppen sich bei der Rolle rückwärts als typisch weiblich.
Die Königsdisziplin der Palindromologie ist allerdings die Suche nach Sätzen, die sich auch von hinten lesen lassen. Da sind unermüdliche Tüftler unterwegs. Ein besonders kurzes Exemplar: Ave, Eva! Mit Namen wird viel gearbeitet. Es eilt, Liese oder Heide gedieh, außerdem Nie will Elli Wein oder Regine, webe weniger! Bei Anni fallen gleich mehrere Sätze an: Anni roch Corinna, dann Anni mag
Lehrer, Helga Minna und schließlich
Anni, meide die Minna! Anna hetzte Hanna klingt auch nicht gerade fein, desgleichen Elly biss Sibylle, und der Ratschlag Eine Hure ruhe nie! ist moralisch eher bedenklich.
Über die Plausibilität vieler Palindromsätze darf man eh nicht länger nachdenken. Wer ist der Herr namens Treiss im Satz Zeus massierte
Treiss am Suez? Oder ziehen wir Gewinn aus der Feststellung Erika feuert
nur untreue Fakire? Auch die Frage
Trug Tim eine so helle Hose nie mit Gurt? drängt sich uns nicht direkt auf. Und um der möglichen Nachfrage zu entgehen, warum ein berühmter Klassiker der Palindromsätze hier nicht erwähnt wurde, sei er explizit genannt: Ein Neger mit Gazelle zagt im Regen nie. Die Tatsache, dass diese eher sinnfreie Aussage wohl vom großen Philosophen Schopenhauer (1788-1860) stammt, möge bei zur politischen Korrektheit neigenden Lesern als Entschuldigung für den Gebrauch des verpönten N-Wortes dienen. So viel zu diesem Thema. Stattdessen noch etwas anderes: Eine parallele Datumskonstellation wie am Sonntag kommt erst am 03.03.3030 wieder. Und zuletzt gab es sie am 01.01.1010. Damals saß Heinrich II. auf dem deutschen Königsthron. Nachschlagen kann man so etwas im Internet. Da steht dann auf dem Portal Happyhappybirthday.net wortwörtlich: „Am 01.01.1010 geborene Menschen sind dieses Jahr (2020) 1010 Jahre alt geworden.“Glückwunsch! Der Verdacht liegt nahe, dass dieser Satz von Algorithmen fabriziert wurde. Dann schon lieber Palindromologen.
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