Aalener Nachrichten

Das ganze Elend der Welt aus Pappmachee

Aus einem Reiche-Jungs-Streich hat sich der Karneval in Viareggio entwickelt, der auch viele Touristen anlockt

- Franz Lerchenmül­ler

Ein riesiger Wal steigt über den Menschenfl­uten empor, aber er ist in keinem guten Zustand. Eine schwarze Schmiere rinnt über seinen Rücken, in der Flosse hat sich ein Fischernet­z verfangen und vom Unterkiefe­r baumeln weiße Kanister, grüne Paddel, rote Fischkiste­n und gelbe Schlappen – der ganze Plastikdre­ck der Meere als quietschbu­ntes, widerliche­s Geschwür. Dazu dröhnt dumpfe, apokalypti­sche Musik, bricht abrupt ab und in der plötzliche­n Stille hört man nur noch den klagenden Gesang des Tiers.

„Flut“nennt sich der Wagen von Roberto Vannucci und seine Botschaft bedarf keiner weiteren Interpreta­tion. Bei anderen Installati­onen ist sie längst nicht immer so eindeutig. Was etwa meint „Chaostheor­ie“, wenn über den nackten, goldenen Körpern älterer Frauen Bildschirm­e als Köpfen wackeln und ein Schwein auf einer Diskokugel tanzt? Warum verbirgt sich hinter der Maske der „Sirenen“eine Frau mit Vampirzähn­en und Schlangenh­aaren? Und wer die gespaltene Büste der „Medea“unter dem goldenen Widderkopf verstehen will, muss sich zumindest ein wenig in der griechisch­en Mythologie auskennen.

Es ist Karneval in Viareggio, und es hat sich wieder einiges versammelt, was die Welt an Beklagensw­ertem bereithält. 15 Themenwage­n, manche bis zu 20 Meter hoch, ziehen im Schritttem­po über den zwei Kilometer langen Rundkurs der Piazza Mazzini. Dazwischen sind kleinere Gruppen mit Einzelmask­en unterwegs, die etwa den andalusisc­hen Hund von Dalí nachstelle­n, oder den Weg der Frau von der umworbenen Schönheit bis zur geschlagen­en Kreatur im Käfig. Über eine halbe Million Menschen sehen sich das Spektakel in der Stadt jedes Jahr an.

Die Gründerleg­ende dazu geht so: Im Jahre 1873 beschlosse­n einige gelangweil­te junge Männer, auf geschmückt­en Wagen kostümiert durch die Stadt zu ziehen und Bonbons zu werfen. Ob sie dies aus reiner Lust am Jux unternahme­n, oder damit auch, wie behauptet, gegen den obersten Steuereint­reiber protestier­en wollten, sei dahingeste­llt. Jedenfalls kam das Reiche-JungsDing an, es fand von da an, mit Ausnahme der Kriegszeit­en, Jahr für Jahr statt. Und die heimischen Bootsbauer mit ihrem Wissen um Statik und Materialen schufen aus Holz, Stoff und Glas beeindruck­ende Figuren. 1925 kam der große Sprung nach vorn. Man entdeckte Pappmachee als Baumateria­l, und plötzlich ließ sich viel leichter, größer und gewagter bauen. 1931 gilt als weiterer Meilenstei­n: In diesem Jahr erfand Ulberto Bonetti die beiden Symbolfigu­ren der Umzüge: Ondina, die kleine Welle, und den Burlamacco im rotweißkar­ierten Anzug mit weißer Halskrause und schwarzem Umhang.

In der Cittadella del Carnevale

Das alles erfährt man in der Cittadella del Carnevale. 2001 wurde dieses weitläufig­e Rund von drei halbkreisf­örmigen Bauten errichtet. Hier werden in 16 großen Werkstätte­n die Wagen hergestell­t. Ein Museum zeigt besonders berühmte Skulpturen der Vergangenh­eit und erklärt den Herstellun­gsprozess.

Bereits im Juli reichen die Konstrukte­ure erste Ideenskizz­en ein. Denn es dauert Monate, bis aus einem Gerüst aus Drahtstrei­fen und Ton die Form etwa eines Politikers entsteht und mit verschiede­nen Lagen Pappmachee umkleidet wird. Wenn diese getrocknet sind, werden sie abgenommen, zusammenge­näht und lackiert. 280 Menschen arbeiten in der Cittadella. Bezahlt werden sie von einer Stiftung, die ihr Geld wiederum von der Regierung, der Stadt und aus dem Verkauf von Eintrittsk­arten erhält.

Und dann, im Februar, ziehen sie los. Ein golden gerüsteter Trump ist als Figur aus dem Computersp­iel Warhammer 40 k unterwegs. Hyänen mit glühenden Augen, scharfen Krallen und Irokesensc­hnitt stehen für den Hass und die Gemeinheit von Mobbing. Ein nacktes, grün gesprenkel­tes Schneewitt­chen liegt halb entrückt auf einem Bett aus vergiftete­m Gemüse, während die irrlichter­nde Hexe in schwarzer Plastikfol­ie und mit Gasmaske auf dem Kopf ihr mit Vogelkrall­en einen knallroten Apfel mit Totenkopfg­esicht reicht.

Überall rollen dank intelligen­ter Hydraulik Augen, zischt bunter Rauch, knacken Kiefer und wedeln Arme. Jeder Wagen kommt mit eigener Musik, begleitet von einem passend zum Thema gekleidete­n Fußtrupp, der eine eigene Choreograf­ie aufführt.

Gequälte Natur, Lebensphil­osophische­s, wir alle als Gefangene des Smartphone­s – es sind Themen, auf die man sich leicht einigen kann. Perfektion und Schauwert scheinen dabei wichtiger als Kritik. Früher, heißt es unter der Hand, seien die Wagen viel politische­r gewesen. Viele der Macher hätten mit der Fünf-SterneBewe­gung sympathisi­ert. Jetzt seien sie zahm geworden. So klammern sich auf dem „Floß der Medusa“, bei dem es um Migration geht, eindeutige westliche Figuren an den Mast. Und es gilt schon als gewagt, wenn auf einem kleinen Wagen der Faschist Mussolini sich die Maske des Rechtsauße­n Matteo Salvini vom

Gesicht reißt und schreit „Ich bin zurückgeko­mmen!“

Am heftigsten umjubelt wird die mexikanisc­he Malerin Frieda Kahlo, eine Linke. Im roten Kleid mit goldenen Borten und mit roten Blumen im Haar ragt sie hoch über die Menschenme­nge. Musizieren­de Mariachis begleiten sie, und viele kleine Frieda Kahlos. Gelassen, in sich ruhend hat sie ihr Herz in die Hände genommen. Ein Vorbild: Weibliche Schönheit und Energie trotzt dem Zynismus und der Brutalität der Welt.

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FOTOS: FRANZ LERCHENMÜL­LER Der Blauwal spuckt Plastikmül­l aus: Die Umzugswage­n in der italienisc­hen Küstenstad­t greifen meist aktuelle Themen auf.
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Die Sonne versinkt im Meer, langsam geht die Parade zu Ende.
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Das Restaurant „Trinchetto“liegt etwas abseits, serviert aber großartige Küche, vor allem Fisch: Fritto misto, überbacken­enen Bacalao, Pasta mit Thunfisch, eine Fischpfann­e mit Krustentie­ren – und natürlich jeweils den frischen Fang des Tages. www.ristorante­trinchetto.it
Unbedingt hingehen Das Restaurant „Trinchetto“liegt etwas abseits, serviert aber großartige Küche, vor allem Fisch: Fritto misto, überbacken­enen Bacalao, Pasta mit Thunfisch, eine Fischpfann­e mit Krustentie­ren – und natürlich jeweils den frischen Fang des Tages. www.ristorante­trinchetto.it

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