Spahn gegen Schließung sämtlicher Schulen
Minister rechnet mit weiteren Corona-Infektionen – Mehr Geld und Personal sollen helfen
Von Klaus Wieschemeyer und dpa
Die Bundesregierung geht von einem weiteren Anstieg der Corona-Infektionen aus: „Der Höhepunkt der Ausbreitung ist noch nicht erreicht“, sagte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Bis zum Mittwochmittag zählte die Bundesregierung 240 Fälle. Der Krisenstab verhängte einen Ausfuhrstopp für Schutzkleidung. Der Haushaltsausschuss gab zudem 250 Millionen Euro für den Kauf von Schutzkleidung und 25 Millionen Euro für die Information der Bevölkerung
frei. Spahn sprach sich gegen generelle Schließungen von Schulen und Universitäten aus. Er halte dies „nicht für angemessen“. Über solche Maßnahmen solle jeweils vor Ort entschieden werden, sagte Spahn. In Italien dagegen beschloss die Regierung die Schließung aller Schulen und Universitäten bis zum 15. März.
Im Süden der Republik breitet sich das Virus derweil weiter aus. In Baden-Württemberg stieg die Zahl der Infektionen auf 65 – darunter ist nun je ein bestätigter Fall im Bodenseekreis und im Landkreis Sigmaringen. In Bayern sind es 56. Hunderte Menschen
sind in häuslicher Quarantäne, weil sie Kontakt mit Corona-Patienten hatten, darunter viele im Landkreis Lindau. Bei dem Infizierten handelt es sich laut Landratsamt um einen Familienvater aus Lindau, dessen Kontaktpersonen unter häusliche Quarantäne gestellt worden seien. Davon betroffen sind auch 59 Schülerinnen und Schüler aus zwei Lindauer Schulen. Zwei Krankenschwestern der Ellwanger Sankt-Anna-Virngrund-Klinik haben sich ebenfalls mit dem Coronavirus infiziert – weshalb zwölf weitere Beschäftigte in häusliche Isolation müssen.
Nach Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) erklärte auch Spahn, zur Bewältigung notwendiger Tests pensionierte Ärzte reaktivieren zu wollen. Dies stößt auf Skepsis bei BadenWürttembergs Landeshausärzteverband. Verbandssprecher Manfred King forderte, „logistische Fragen“zu klären: „Wo zum Beispiel werden diese ehemaligen Ärzte eingesetzt?“Viele hätten ihre Praxen verkauft. Überlastet sind auch die Hotlines der Gesundheitsämter. Spahn kann sich dort den Einsatz von Medizinstudenten vorstellen.
- Die Ausbreitung des neuartigen Coronavirus beschäftigt den Bundestag auch ganz praktisch: Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) hat die Abgeordneten am Montag per Rundschreiben zur Zurückhaltung bei Dienstreisen und zum regelmäßigen Händewaschen ermahnt. Zudem behält sich der Hausherr vor, die Reichstagskuppel für Besucher zu sperren.
Das Parlament selbst soll aber erst mal weiter tagen. Die 709 Abgeordneten und etwa 6000 Mitarbeiter von Bundestag und Fraktionen haben aktuell Sitzungswoche – und die soll inklusive der Betreuung von etwa 6000 Besuchern pro Tag möglichst ungestört ablaufen. Die Fraktionen wollen die Ängste in der Bevölkerung nicht weiter anheizen. Das letzte Wort hat aber wohl das örtliche Gesundheitsamt in Berlin-Mitte. Solange dieses keine Bedenken hat, sollen Parlaments- und Regierungsbetrieb weitergehen.
Unter der noch für Besucher geöffneten Reichstagskuppel stimmte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Deutschland am Mittwoch auf weiter steigende Fallzahlen ein: „Der Höhepunkt der Ausbreitung ist noch nicht erreicht“, sagte Spahn. Am Mittwochmittag verzeichneten die Behörden deutschlandweit 240 Covid-19-Erkrankungen, davon 65 in Baden-Württemberg und 56 in Bayern.
Möglicherweise werde die Bundesregierung bald in eine zweite Phase der Epidemiebekämpfung übergehen. Das hieße: Weg von dem Versuch, die deutschlandweite Ausbreitung der Krankheit durch Isolation der Betroffenen zu verlangsamen, hin zur Konzentration auf die medizinische Behandlung schwerer Fälle.
Spahn mahnte die Bevölkerung zu Besonnenheit und Zusammenhalt. „Die Folgen von Angst können größer sein als das Virus selbst“, sagte er. Regierungsparteien und die Oppositionsparteien Grüne und FDP lobten Spahn für seinen transparenten Umgang. „Die Bundesregierung macht im Moment vieles richtig“, sagte die Grünen-Politikerin Kordula Schulz-Asche, die sich besonders über den Diebstahl von Desinfektionsmitteln („Was sind das für Leute?“) aufregte. Auch FDP-Chef Christian Lindner warnte angesichts der Lage vor „falschem Störfeuer“. Zwar gebe es durchaus Probleme im Krisenmanagement, doch eine bilanzierende Debatte verbiete sich zu diesem Zeitpunkt, sagte er.
Ganz anders sahen das AfD und Linkspartei: AfD-Fraktionschefin Alice Weidel warf der Bundesregierung ein „fahrlässiges Spiel mit dem Leben unserer Bürger vor“. Statt klarer Strukturen gebe es nur „Chaos und Kompetenzwirrwarr“. Weidel forderte Temperaturkontrollen von Reisenden an Flughäfen und die Schließung von Grenzen. Die Linken-Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali sah in der Exportorientierung der deutschen Wirtschaft sowie dem „Kaputtsparen“des Gesundheitssystems weitere CoronaBeschleuniger: „Die Gesundheitsversorgung gehört vollständig in die öffentliche Hand“, sagte sie.
Der Krisenstab des Bundes verschärfte seine Vorsichtsmaßnahmen: Demnach werden Schutzausrüstungen für Arztpraxen und Krankenhäuser nun zentral vom Bundesgesundheitsministerium beschafft, die Zusammenarbeit mit den Bundesländern wird verstärkt. Der Export von Schutzkleidung und Atemmasken ins Ausland wird weitgehend verboten. Deutsche, die im europäischen Ausland in Quarantäne sind, sollen dort auch bleiben – für die auf Teneriffa festsitzenden Deutschen heißt das: Rückkehr frühestens am 10. März. Das Auswärtige Amt weist in seinen Reisehinweisen auf ein erhöhtes Quarantänerisiko auf Kreuzfahrtschiffen hin.
Unterdessen fallen bundesweit weitere Veranstaltungen aus oder werden verschoben: Die weltgrößte Industriemesse, die Hannover Messe, soll statt im April nun im Juli stattfinden. Auch ein Bürgerforum für die Sanierung der Stuttgarter Oper ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Fast die Hälfte der 40 zufällig ausgewählten Bürger habe sich aus Sorge vor Ansteckung abgemeldet. Ob das traditionelle Frühlingsfest auf dem Cannstatter Wasen Mitte April stattfindet, war am Mittwochnachmittag noch unklar.
Ärzteverbände fordern eine vorübergehende Erhöhung der Karenztage bei Krankmeldungen auf sechs. „Derzeit rennen uns die Eltern die
Türen ein wegen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, weil sie zu Hause kranke Kinder betreuen müssen“, sagte Thomas Fischbach vom Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte. Viele dieser Eltern seien selbst gesund und säßen in den Praxen dann mit möglichen Erkrankten zusammen.
Um der Wirtschaft zu helfen, werden in Berlin derzeit milliardenschwere Konjunkturprogramme diskutiert. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) legte einen entsprechenden Plan vor. Bereits am Sonntag will der Koalitionsausschuss die Konjunktur ankurbeln: Union und SPD debattieren über ein Sofort-Investitionsprogramm sowie die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes auf Betriebe, die wegen ausbleibender Materiallieferungen aus China in Probleme geraten. Das Geld dafür soll aus Haushaltsüberschüssen aus 2019 kommen. Von dem Treffen im Kanzleramt werden Ergebnisse erwartet – wenn es denn nicht vorher wegen Virusgefahr abgesagt wird.