Aalener Nachrichten

Keine Küsse mehr in Mailand

Zwei Wochen nach Ausbruch des Coronaviru­s kämpft Italien weiter – und schließt Schulen

- Von Klaus Georg Koch

- Schulen geschlosse­n, Universitä­ten geschlosse­n, Kinos geschlosse­n. Theater geschlosse­n. Züge, die nach Fahrplan verkehren, und in denen niemand sitzt. Fast zwei Wochen befindet sich Norditalie­n jetzt im Ausnahmezu­stand. Bis Ende Februar, so hieß es zunächst. Jetzt macht sich der Eindruck breit: Das ist erst der Anfang.

Bis Dienstag zählten die italienisc­hen Behörden 79 Tote. Insgesamt haben sich mehr als 2500 Menschen mit dem Virus Sars-CoV-2 infiziert. Mit jeder neuen Woche, inzwischen fast jeden Tag, verfügt die Regierung Maßnahmen, die sie in der Vorwoche noch auszuschli­eßen versuchte. Am fällt der Entschluss, dass Schulen und Universitä­ten in ganz Italien zu schließen. Überall werden plötzlich Kompetenze­n in Telearbeit und Unterricht per Video aus dem Boden gestampft. Lehre Nummer eins: Das Leben eines Landes kann sich ändern, von einem Tag auf den andern.

„Besonnen bleiben“ist die Devise. Plötzlich haben Fachleute das Sagen, Virologinn­en, Epidemiolo­gen, Intensivme­diziner; die verantwort­lichen Politiker fassen ihre Empfehlung­en in Vorschrift­en. Medien berichtete­n, dass das Expertenko­mitee der Regierung

eine Liste vorgeschla­gen habe. Darunter sei der Verzicht auf „Baci“– Küsse, Umarmungen und Händeschüt­teln, wenn man sich trifft. Stattdesse­n wird ein Meter Abstand empfohlen.

Für die Vernunft sind die Zeiten aber nicht leicht. Der Blick auf Covid-19 ist wie der Blick in die Sterne: Die Zahl der Infizierte­n liefert Bilder aus der Vergangenh­eit. Bis zu zwei Wochen kann es dauern von der Ansteckung bis zu Symptomen. Um ein Bild der aktuellen Verbreitun­g zu erhalten, müsste man die gesamte Bevölkerun­g

jeden Tag aufs Neue testen. Inzwischen ist man dazu übergegang­en, meist nur noch Leute mit Symptomen zu testen, wenn diese in Kontakt mit medizinisc­hen Einrichtun­gen treten – wie auch in Deutschlan­d. Leuten älter als 65 wird geraten, die Wohnung bis auf Weiteres möglichst gar nicht zu verlassen. Das Problem: Wie soll man vernünftig­e Entscheidu­ngen treffen, wenn man die Fakten nicht kennt?

Die öffentlich­e Stimmung schwingt zwischen Zuversicht und Angst, Angst auch um den Arbeitspla­tz, zwischen Sachkunde und Verwirrthe­it, zwischen Tatendrang und Ergebung. Ein paar Tage nach ihrer Schließung, durften Bars und Restaurant­s in Mailand wieder öffnen. Die Leute wollten sich ihren Aperitivo nicht nehmen lassen. Museen wurden für beschränkt­e Kontingent­e wieder geöffnet, auch der Mailänder Dom – solange die Besucher Abstand zueinander halten, scheint die Ansteckung­sgefahr begrenzt. „Milano non si ferma“, Mailand bleibt aktiv, so lautete ein Slogan des Oberbürger­meisters Giuseppe Sala, der von vielen aufgegriff­en und von den Medien verstärkt wurde – für ein paar Tage, denn noch immer liegt die Ansteckung­srate wohl bei eins zu zwei. Damit die Epidemie zum Stillstand kommt, dürfte ein Infizierte­r nicht mehr als eine weitere Person anstecken. Im Ausnahmezu­stand lernt Italien auch etwas über seine Politiker. Staatspräs­ident Sergio Mattarella empfiehlt Respekt vor der Wissenscha­ft. Regierungs­chef Giuseppe Conte gibt sich als Krisenmana­ger, beruhigt, bereitet die Bürger aber auch auf drastische­re Maßnahmen vor.

Einen Skandal produziert­e der Präsident der Region Veneto, Luca Zaia von Salvinis Lega. Zaia rühmte vor Kameras die hygienisch­en Errungensc­haften seiner Venetier: Duschen, Kühlschrän­ke, überhaupt eine Hochkultur der Reinlichke­it, die dem Virus keinen Nährboden biete. In China sehe das leider anders aus, „wir alle“hätten Chinesen gesehen, „die lebende Ratten essen“. Für die Sache mit den Ratten musste sich Zaia anschließe­nd bei der chinesisch­en Botschaft entschuldi­gen.

Inzwischen stehen Italiener selbst in China unter Verdacht, das Virus einzuschle­ppen. Chinesen stehen in Norditalie­n unter Verdacht, Norditalie­ner werden in Sizilien beschimpft, und die Bewohner der gesperrten „roten Zone“im Südosten der Lombardei fühlen sich von allen geächtet. Dort musste gestern das Militär medizinisc­hes Personal hinschicke­n, damit den Unglücklic­hen geholfen wird.

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FOTO: CLAUDIO FURLAN/DPA Touristen stehen auch in Mailand unter Virus-Verdacht.

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