„Falsche Reaktionen verschärfen Problem“
Extremismusforscher und Aussteiger-Beraterin über die Radikalisierung von Jugendlichen
- Nicht erst seit den Anschlägen von Halle und Hanau mit vielen Toten ist klar: Deutschland hat eine gefährliche rechtsextreme Szene. Anna-Katharin Kirsch, Leiterin der Aussteigerberatung Konex und der Extremismusforscher Daniel Köhler beschäftigen sich im Auftrag des Innenministeriums mit der Szene im Land. Katja Korf hat mit ihnen gesprochen.
Wie hat sich die Szene entwickelt?
Köhler: In den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren hat sie sich deutlich verändert, in Erscheinung, Musik und ideologischen Inhalten. Wir haben heute zum Beispiel rechtsextremen Hip-Hop in Deutschland, genauso wie andere Jugendsubkulturen, die man bis vor einigen Jahren nicht mit der rechten Szene verbunden hat – etwa Sprayer. Außerdem hat sich die Szene internationalisiert. Wir haben eine starke Vernetzung in Westeuropa und nach Nordamerika. Deutsche Rechtsextremisten reisen über die Grenzen zu Konzerten, nach Österreich, in die Schweiz oder ins Elsass.
Welche Rolle spielt das Internet?
Wir sehen eine starke Verlagerung ins Netz. Das zeigen die Fälle in Hanau und Halle. Die Täter dort waren keine klassischen Neonazis, zumindest nach allem, was man bisher weiß. Das sind Menschen, die sich sehr viel im Internet bewegen und die dort verbreiteten Verschwörungstheorien verinnerlichen. Diese werden ideologisch vermischt mit Rassismus, Nationalsozialismus und Antisemitismus.
Wie unterscheiden sich solche im Netz radikalisierten Täter von der klassisch rechtsextremen Szene? Das sind – siehe Hanau und Halle – oft Einzeltäter, die nicht fest in der Neonazi-Szene oder anderen entsprechenden Organisationen eingebunden sind. Diese Szene gibt es aber nach wie vor. Darin finden sich Organisationen mit festen Strukturen, in dessen Rahmen Personen Gemeinschaft suchen, und ihre Freizeit zusammen verbringen. Musik spielt da oft eine große gemeinschaftsstiftende Rolle, aber auch Sport. Auch die Planung und Durchführung gemeinsamer Aktionen wie die Fahrt zu Demonstrationen, spielen eine Rolle.
Wenn man in Baden-Württemberg im Landtag sitzt, wenn man politische Debatten weltweit verfolgt, hört man Verschwörungstheorien von Rechtspopulisten wie der AfD. Welchen Einfluss hat das? Aufgrund unserer Neutralitätsvorgaben können wir uns generell zu politischen Debatten nicht äußern. Die Forschung belegt, dass öffentliche Personen, wie beispielsweise auch einzelne hochrangige Politiker von anerkannten Demokratien, Elemente solcher Verschwörungstheorien verbreiten – sie sprechen von „Invasion“der Flüchtlinge, stellen etablierte demokratische Parteien als Gefährdung dar. Ziel mag es sein, Angst und Bedrohung zu erzeugen und damit Wut gegen die übrigen Parteien und – je nach Konstellation – gegen die Regierung oder Opposition zu schüren. Das ist ein Kernelement des Rechtspopulismus. Die Diskurse in Deutschland haben in den vergangenen Jahren sehr stark Elemente aufgenommen, die sprachlich, aber auch ideologisch vor fünf oder zehn Jahren der harten Rechten zugeordnet wurden. Inzwischen sind sie im Mainstream zu hören.
Wie reagieren Sie darauf?
Kirsch: Unsere Kernkompetenz ist die Ausstiegsberatung. Wir gehen aktiv auf Menschen zu, die sich im rechtsextremen Spektrum bewegen und potenziell zum Ausstieg bereit sein könnten. Wir sind jederzeit ansprechbar, wenn sich jemand von sich aus meldet. Das Programm ist freiwillig und kostenlos. Wir beraten und begleiten pro Jahr eine niedrige zweistellige Zahl von Menschen. Warum und wie sich jemand radikalisiert, ist ganz unterschiedlich. Je nach Einzelfall stellen wir unser Team zusammen. Also was benötigt jemand genau – Hilfe in der Schule, bei der Suche nach einer Ausbildung oder einem Job, Schuldnerberatung, Hilfe bei Konflikten mit der Familie? Deshalb werden wir demnächst auch noch Psychologen einstellen. Natürlich geht es immer um eine Auseinandersetzung mit der Ideologie.
Kann man erkennen, dass sich jemand radikalisiert?
Köhler: Solche Warnsignale vermitteln wir in unseren Fortbildungen für Fachkräfte wie zum Beispiel Schulpsychologen, Lehrer, Bewährungshelfer. Wir sind bundesweit das einzige staatliche Zentrum, das Partner so intensiv schult. Da geht es unter anderem um Grundlagen des Rechtsextremismus, um Erscheinungsformen, Kleidung, Tattoos, Symbole, die Psychologie der Radikalisierung und Deradikalisierung neben vielen anderen Themen. Da sind klassische Neonazis, die man an der äußeren Erscheinung erkennt. Dann gibt es Gruppen wie die Identitäre Bewegung, die ganz anders daherkommen: intellektuell, elitär. Ein Hinweis kann die Sprache sein. Da sagt man nicht mehr Pizza sondern Gemüsekuchen oder Datenzäpfchen statt USB-Stick. Rechtsextremismus ist heute an vielen
Punkten schwerer erkennbar geworden für Durchschnittsbürger.
Gibt es typische Verhaltensmuster?
Jugendliche ziehen sich aus ihrem alten Freundeskreis zurück, isolieren sich, treten in der Diskussion über politische Themen aggressiv auf, auch gegenüber den Eltern. Sie sprechen bewusst Reizthemen an.
Wenn sich jemand im Netz radikalisiert – erkennen Eltern das?
Solche Menschen verändern sich in der Regel nicht so stark äußerlich wie etwa Skinheads. Aber grundsätzlich nehmen Personen, die sich radikalisieren, gesellschaftliche Probleme stärker wahr, auch im eigenen Leben. Sie sagen Sätze wie „Das läuft falsch. Die Politik tut nichts“. Gleichzeitig erkennen sie keine Lösungen. Es baut sich eine Spannung auf zwischen „Deutschland geht vor die Hunde“und „Niemand tut etwas, Politik, Presse und alle Institutionen versagen“. Sobald man ein komisches Gefühl hat, sollten sich Eltern oder Lehrer Rat suchen. Es kostet nichts, es kann nie falsch sein – und unsere Experten können sehr gut unterscheiden zwischen einer pubertären Krise und einer besorgniserregenden Radikalisierung. Falsche Reaktionen können das Problem verschärfen.
Was wären falschen Reaktionen?
Die extremistische Szene arbeitet sehr gerne mit Provokationen und Konflikten, um Menschen zu radikalisieren. Erstens, um eine Person von Freunden und Familie loszulösen und zweitens, um vermeintliche Doppelmoral aufzuzeigen. Ein Beispiel: In Deutschland herrsche Meinungsfreiheit, aber man dürfe den Holocaust, den Mord an Millionen Juden, nicht leugnen. Wer das versuche, bekomme einen „Maulkorb“. Wenn Eltern oder Lehrer auf so etwas restriktiv reagieren, nur sagen „So etwas will ich nicht hören“, dann bestätigen sie die Szene. Die Jugendlichen erleben genau jene Reaktionen, die die Rechtsextremen vorhergesagt haben.
Was sollte man stattdessen tun?
Erklären, warum diese Dinge so sind – dass es eindeutig erwiesen ist, dass die Nationalsozialisten Millionen Juden systematisch ermordet haben, dass man deswegen diese Verbrechen gar nicht leugnen kann. Man muss das Bedürfnis wahrnehmen, Probleme, die Jugendliche sehen, zu besprechen. Es geht darum, zu erklären, zuzuhören, zu differenzieren und andere Lösungen aufzuzeigen. Ängste und Sorgen nicht ernst zu nehmen, wird von der Szene genutzt, um die Betroffenen auf ihre Seite zu ziehen. Nach dem Motto: „Hier darfst du deine Meinung noch frei sagen, alle anderen schwätzen nur, wir tun was“.
Wie Konex Aussteiger berät und wie Verschwörungstheorien sich mit Nazi-Ideologie vermischen: www.schwäbische.de/konex