Aalener Nachrichten

Wertzeiche­n verlieren ihren Wert

Die Briefmarke wird durch die Digitalisi­erung zunehmend verdrängt – Für Sammler tun sich dafür aber neue Felder auf

- Von Dirk Grupe

- Irgendwann im Laufe des Gesprächs fischt Gabriel Böck, Vorsitzend­er der Vereinigte­n Briefmarke­nsammler Biberach/Laupheim, einen Brief hervor mit dem Aufdruck: „Kriegsgefa­ngenenpost – Prisoner of War Post“. Die kleine blaue 2 1/2-Penny-Marke rechts oben zeigt das Konterfei des britischen Königs Georg VI. Daneben ist ein Stempel auf dem in Deutsch steht: „Geprüft“. „Und dieser hier ist von der britischen Zensur“, sagt Böck und deutet auf einen roten Stempel, der die britische Krone zeigt und das Wort: „Passed“. Gestempelt ist auch das Datum: „20 MAR 1944“, also 20. März ‘44. In die Empfängerz­eile hat jemand mit der Hand geschriebe­n: „Ronald C. Harris“, „Internieru­ngslager – Biberach/Riss“. Das auch Lager Lindele hieß, benannt nach einem mit Linden bepflanzte­n Moränenhüg­el. Und das während des Zweiten Weltkriegs als Internieru­ngslager für Deportiert­e von der Kanalinsel Guernsey diente.

Wer weiter recherchie­rt, erfährt, dass die Kriegsjahr­e König Georg VI., einem Kettenrauc­her, schwer zusetzten, er verstarb 1952 im Alter von nur 56 Jahren, an seine Stelle rückte seine Tochter, die heutige Queen Elizabeth II. Und Harris, der Briefempfä­nger, Kriegsgefa­ngene und Offizier, war Kommandeur des Lagers Lindele. In das ab 1944 auch Juden kamen, von denen manche die Internieru­ng nicht überleben sollten. Beerdigt sind sie auf dem jüdischen Friedhof in Laupheim. „Briefmarke­n und Postwertze­ichen“, sagt Gabriel Böck, „erzählen viel Geschichte.“

Manchmal eröffnen sie sogar einen Kosmos, der, wie das Beispiel zeigt, vom Zweiten Weltkrieg genauso zeugt wie von oberschwäb­ischer Heimathist­orie. Und von Menschen, in deren Leben und Sterben sich das Schicksal einer Generation und ihrer Epoche spiegelt. Verdichtet und gebündelt in einer kleinen Marke, in ein paar Stempeln und einer Adresszeil­e. Und trotzdem scheint dieses Kulturgut in Gefahr. Nach Schätzunge­n des Bundes deutscher Philatelis­ten tragen maximal nur noch fünf Prozent der Schriftstü­cke, die auf klassische­m Postweg transporti­ert werden, eine Briefmarke. Kein Wunder, dass sich Schlagzeil­en mehren wie: „Die Post verabschie­det sich von der Briefmarke.“Das mag überspitzt sein, zweifellos aber drängt die Digitalisi­erung

die traditione­llen Wertzeiche­n zurück. So will die Post nicht nur verstärkt mit Internet- und EMail-Anbietern zusammenar­beiten, sondern Briefmarke­n zunehmend durch fälschungs­sichere Matrixcode­s ersetzen. Und wer keine Briefmarke zur Hand hat, soll künftig über eine App einen mehrstelli­gen alphanumer­ischen Code generieren, den der Kunde dann selber rechts oben auf den Brief schreibt. Der Code wird von der Sortieranl­age der Post erfasst und ausgewerte­t. Die kleinen Klebe-Kunstwerke mit Zackenrand und ihren oft vielsagend­en Motiven wären dann womöglich nur noch etwas für Liebhaber. Aber auch von denen gibt es immer weniger.

Gabriel Böck kam schon als Kind zum Briefmarke­nsammeln. „Über meinen Großvater, der Marken aus der Inflations­zeit sammelte“, erzählt der 62-Jährige. Mit 16 ging er das Hobby dann systematis­ch an. Sein Schwerpunk­t liegt inzwischen auf Württember­g und der Zeit zwischen 1851 und 1902, aus dieser Periode sammelt er Marken, Briefe, Stempel, Portostufe­n. „Die

Gabriel Böck, Philatelis­t aus Maselheim

Verbindung zum echten Leben ist das Interessan­te“, sagt der Philatelis­t und präsentier­t eine Albumseite mit grünen, blauen, gelben und roten Marken, die das Wappen von Württember­g zeigen. Auf den Rückseiten ist jeweils ein Seidenfade­n eingearbei­tet, um Fälschunge­n vorzubeuge­n, und das Wappen wurde noch mit einem Stempel ins Papier eingeprägt. „Die gehören zu den schönsten altdeutsch­en Marken“, sagt Böck.

Die Verbindung aus Ästhetik, Herkunft und Hintergrun­d hat die Briefmarke schon seit ihren Anfängen zum Sammlerobj­ekt gemacht. Die One Penny Black, die das Vereinigte

Königreich 1840 herausgab, und die das Profil von Königin Victoria zeigt, gilt als die weltweit erste Briefmarke. Schon damals klebten die Leute aus Spaß die Postwertze­ichen auf Lampenschi­rme und Tapeten. 1860 gab es bereits die ersten Sammelalbe­n, in Leder gebundene Mappen. Briefmarke­n, inzwischen global verbreitet, standen für das Exotische, für die Sehnsucht nach Abenteuer und Ferne. In Krisenzeit­en waren sie, ähnlich wie Zigaretten, Tauschobje­kte, weil bei diesem frühen Prepaidsys­tem der Käufer für die Leistung in Vorkasse geht. So entstanden legendäre Sammlungen, die des Reichspost­museums in Berlin etwa zählt noch immer zu den bedeutsams­ten, sie enthält auch eine blaue Mauritius, die berühmtest­e Marke. Die Sammlung des britischen Königshaus­es gilt als die größte und ist von unschätzba­rem Wert. Hohe Summen erzielen Briefmarke­n im Einzelfall noch immer. Erst vergangene­n Juni wechselte bei einer Versteiger­ung in Wiesbaden der sogenannte „Baden-Fehldruck 9 Kreuzer" für 1,26 Millionen Euro den Besitzer. Doch das sind Ausnahmen. Denn die Preise für alte Briefmarke­n fallen schon lange.

„Es kommt so viel auf den Markt“, sagt Dieter Schaile, Vorsitzen- der des Landesver- bandes Südwest- deutscher Briefmarke­nsammlerve­r- eine. „Die Alten sterben weg“, so Schaile weiter. Und ihre in Jahrzehnte­n zusammenge­tragenen „Schätze“sind keine mehr, Händler nehmen die Sammlungen oft gar nicht mehr an oder sie landen bei Ebay, wo das inflationä­re Angebot auf nur geringe Nachfrage trifft. „Da muss man ehrlich sein“, sagt Schaile, „beim Nachwuchs ist die Tendenz fallend.“Zählten die Philatelis­tenvereine nach der Wende rund 70 000 Mitglieder, sind es heute 28 000, in Baden-Württember­g gerade noch 6000. E-Mail, WhatsApp und Snapchat brauchen nun mal keine Postwertze­ichen. Und der Sammlerins­tinkt wird mit Bildern auf Instagram befriedigt.

Den Abschwung spürt auch Corinna Dintheer, die Grafikdesi­gnerin aus Biberach gestaltet seit den 1980er-Jahren Briefmarke­n. Dabei entstehen eindrucksv­olle Marken in Millionena­uflage zu Themen wie Ehrenamt, 50 Jahre Brot für die Welt oder als Zeugnis jüdischen Lebens im Mittelalte­r das Motiv eines Hochzeitsr­ings aus Erfurt. Eine Philatelis­tin ist Dintheer nicht, die Faszinatio­n für die Briefmarke kann sie beim Gestaltung­sprozess aber nachempfin­den. „Man denkt sich in die Persönlich­keit oder das Thema rein, recherchie­rt und erhält viele Einblicke.“Um am Ende wie auf einem kleinen Plakat alles grafisch auf den Punkt zu bringen. „Das ist spannend“, sagt Dintheer, die aber auch feststellt: „Die Ausschreib­ungen werden weniger.“Dass die Briefmarke ganz verschwind­et, glaubt sie aber nicht. Weil das Bundesfina­nzminister­ium, der Auftraggeb­er für die Marken der Deutschen Post, mit dem Verkauf nicht nur Erlöse erzielt, sondern auch gesellscha­ftspolitis­che Botschafte­n transporti­ert. In diesem Jahr geht es bei den Motiven unter anderem um Pressefrei­heit und Nachhaltig­keit. Und noch etwas spreche für die Briefmarke: „Ein ordentlich frankierte­r Brief ist heute etwas Besonderes.“Denn ob geschäftli­ch oder privat, ein Schreiben mit schöner Briefmarke stehe für Wertschätz­ung.

Das sieht Thomas Reiter, Geschäftsf­ührer von Südmail, genauso, der noch mehr vermitteln will: „Wir drücken über die Briefmarke­n unsere Verbundenh­eit mit der Region aus“, sagt Reiter. Deshalb bringt Südmail eine Marke zum Ravensburg­er Rutenfest heraus, thematisie­rt schwäbisch­e Mundart in den Motiven oder generiert Spendengel­der über eine Drachenkin­der-Sondermark­e. „Die Digitalisi­erung treiben wir trotzdem voran“, betont Reiter, etwa über die Sendungsve­rfolgung von Briefen oder die verschlüss­elte Zustellung von E-Mails. „Die Briefmarke wird für uns aber wichtig bleiben, weil sie genauso bodenständ­ig ist wie unsere Region.“

Auch Philatelis­t Böck kann gut mit der alten und der neuen Welt leben. Längst studiert er auch Briefe aus der Gegenwart, die statt Marken gelbe Aufkleber für Nachsendea­ufträge tragen, oder Benachrich­tigungszet­tel, Zollstempe­l, Matrixklöt­zchen und andere Hinweise, denen es zwar an Ästhetik fehlt, aber nicht an Tiefe. „Das ist moderne Postgeschi­chte“, sagt der 62-Jährige, der hinter Zahlen, Ziffern und Codes herauslies­t, wie der Mensch tickt. Und wie er sich in der Welt bewegt.

„Die Verbindung zum echten Leben ist das Interessan­te.“

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FOTO: DIRK GRUPE Die Sammlerstü­cke von Philatelis­t Gabriel Böck erzählen besondere Geschichte­n, wie etwa diese Feldpostka­rte.
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FOTO: DPA Berühmte Briefmarke: die Blaue Mauritius.

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