Gottes Geißel, Schwarzer Tod
Grippe, Pest, Cholera und Corona – Seuchen begleiten die Menschheitsgeschichte – Sie wecken vage Ängste und unbestimmte Faszinationen
Corona ist nur das neueste Beispiel: Seuchen rühren an den Urängsten der Menschen. Die Geschichte der Seuchen zeigt, dass sogar moderne Gesellschaften verwundbar sind. Auch heute sind Krankheiten nicht so beherrschbar, wie sich das unsere hoch entwickelte Gesellschaft wünscht. Zugleich zeigen Seuchen das Beste im Menschen. Ihre Geschichte ist auch die derjenigen, die sie bekämpfen. Wie Louis Pasteur und Robert Koch, die Ende des 19. Jahrhunderts wetteiferten, wer Krankheitserreger eher entdeckt.
Es war ein Bild des Schreckens: Schwerkranke bluten aus Nasen und Ohren, viele spucken Blut. Da ihre Lungen kaum arbeiten, leiden sie an Sauerstoffmangel und laufen blau an. Der Tod kam qualvoll, aber schnell. Von Oktober bis November 1918 häuften sich die Zeitungsberichte über eine seltsame Grippe. Manches, was die Zeitungen berichteten, erinnert an unsere Gegenwart: Schulschließungen werden angeordnet. Kino-, Theater- und Tanzveranstaltungen in vielen Regionen verboten. Die Behörden weisen darauf hin, dass es sich bei der „spanischen Krankheit“nicht um die Lungenpest oder um Hungertyphus handelt, sondern um eine Grippeepidemie. Bald sind erste Krankenhäuser überfüllt.
Vor 100 Jahren wütetete die Spanische Grippe. Sie forderte von Jahresanfang 1918 bis 1920 weltweit 50 Millionen Tote, mehr als die Pest im
14. Jahrhundert. Dass damals besonders jüngere Menschen starben, lag an einer Überreaktion des Immunsystems. Bei den Alten war dieses schlicht zu schwach für diese Überreaktion. Begonnen hatte alles relativ harmlos. Während einer ersten Welle im Frühjahr 1918 erkrankten zwar sehr viele Menschen, aber relativ wenige starben. Der Auslöser, das Influenzavirus, wurde erst 1933 entdeckt. Die Spanische Grippe war die schlimmste Seuche der Moderne.
Es gibt viel mehr Seuchen, als wir ahnen. Der Medizinhistoriker Stefan Winkle hat seine über 1100 Seiten umfassende „Kulturgeschichte der Seuchen“folgendermaßen gegliedert: Lepra („Aussatz“), Milzbrand, Tuberkulose, Cholera, Diphtherie, Wundinfektionen (mal Tetanus, mal Gasbrand, mal Sepsis genannt), Kindbettfieber, Ruhr, Typhus, Pest, Fleckfieber, Trachom, Malaria, Schlafkrankheit, Pocken, Tollwut, Gelbsucht, Gelbfieber, Grippe, Krätze, Tanzwut, Papageienkrankheit, und schließlich Bioterror und biologische Kriegsführung.
Die bekannteste Seuche ist nach wie vor die Pest. Als sie Mitte des
14. Jahrhunderts plötzlich über das Abendland hereinbrach und sich in rasender Geschwindigkeit von Ost nach West ausbreitete, erwiesen sich die Ärzte als völlig hilflos. Zwischen 1346 und 1350 starb fast ein Drittel der europäischen Bevölkerung.
Der Dichter Petrarca schrieb als Augenzeuge über die Verhältnisse in Norditalien zwischen Mailand und Verona: „Städte und Burgen wurden verlassen. Die Stimmen von Braut und Bräutigam, der Klang der Laute, der Gesang junger Leute und jeglicher Freude waren geschwunden.“
Die Pest schuf ungeahnte soziale Konflikte: Viele verzweifelten an der Rücksichtslosigkeit der Mitmenschen. Städte reagierten überaus verschieden. Manche Kommunen lehnten es ab, Kranke aufzunehmen, andere taten genau das. Zwischen infizierten und nicht infizierten Städten entwickelte sich ein feindseliges Verhältnis. Aus Angst vor Ansteckung ergriff man Absperrmaßnahmen. Die Quarantäne wurde erfunden. Zuerst in Venedig: Ladung und Passagiere ankommender Schiffe mussten 30 Tage auf einer Insel vor der Stadt bleiben, bevor man an Land gehen durfte. Marseille folgte diesem Beispiel und erhöhte die Frist auf 40 Tage. Bis heute heißen solche Maßnahmen darum Quarantäne – von „cuarentena“, dem damaligen Ausdruck für 40 Tage.
Es kam aber auch zu härterem Vorgehen: In Genua versuchte man, Schiffe durch Beschuss mit Brandfackeln am Anlegen zu hindern. Doch alles verzögerte den Ausbruch nur. Von den Hafenstädten aus gelangte die Seuche ins Hinterland. Im Sommer des Jahres 1348 war der ganze Kontinent von der Pest befallen.
Viele Menschen flohen in unbesiedelte Gegenden. Andere suchten
Sündenböcke, und es kam mehrfach zu Juden-Pogromen. Wer Trost in der Religion suchte, tat dies oft nicht bei den etablierten Kirchen, sondern in Bewegungen wie den Flagellanten, die sich selbst geißelnd und singend durch Straßen und Felder zogen. Aus dieser Zeit stammt auch der Ursprung eines bekannten deutschen Kinderlieds: „Oh du lieber Augustin Augustin Augustin, oh du lieber Augustin – alles ist hin/ Jeder Tag war ein Fest/ und was jetzt/ Pest die Pest/ nur ein großes Leichenfest/ das ist der Rest."
Der Begriff „Pest“ist übrigens nicht eindeutig. Im Lateinischen steht er allgemein für Seuchen, und auch in anderen Sprachen wird nicht zwischen Pest, Pocken, Cholera und anderen Infektionskrankheiten unterschieden.
Berühmt wurde als erstes die „Justinianische Pest“, eine Pandemie, die sich zur Zeit des oströmischen Kaisers Justinian ereignete und erstmals 541 in Ägypten auftauchte. Sie gilt als die größte antike Epidemie. Bei dieser Krankheit handelte es sich nicht um eine Pest im eigentlichen Sinn. Übertragen wurde sie offenbar durch große Fliegenschwärme, deren verstärktes Auftreten durch eine plötzliche klimatische Veränderung verursacht worden war. Ein Vulkanausbruch in Asien verursachte eine Aschewolke, die die Atmosphäre verdunkelte und zu einer schlagartigen
Abkühlung führte, die etwa 20 Jahre anhielt.
Eine zweite Groß-Seuche waren die Pocken. Zuerst traten sie ab etwa 1515 im neuentdeckten Amerika auf, rotteten Millionen der Ureinwohner aus, während die Europäer immun waren. Dann, gut 200 Jahre später, war das Virus mutiert und wütete nun auch in Westeuropa heftig ab Mitte des 17. Jahrhunderts.
Die Geschichte der Seuchen ist auch die ihrer Behandlung. Erst im
19. Jahrhundert wandte sich die Medizin ganz von der antiken Säftelehre ab und modernen, empirischen Methoden zu. Zwei Ärzte wurden zu den großen Helden der modernen Medizin: Der Franzose Louis Pasteur schuf die Grundlagen der Bakteriologie. Sein Pendant in Deutschland ist Robert Koch. Er begründete die Seuchenlehre und die experimentelle Mikrobiologie. Mit aufwendigen Reihenuntersuchungen entdeckte er unter anderem den Erreger der Tuberkulose 1882 und den Erreger der Cholera 1883.
Zu seiner Sternstunde wurde das Jahr 1892. Hier kam es in Hamburg zur letzten großen Cholera-Epidemie Europas. Tausende starben. Als die Epidemie eingedämmt war, veränderte sich die Stadtplanung der Hansestadt komplett: Sozialwohnungen lösten die alten Arbeiterquartiere ab, eine neue Kanalisation und Wasserversorgung wurde geschaffen, Badeanstalten eingerichtet, die Versorgung mit Ärzten und Betten so verbessert, dass das zuvor rückständige Hamburg nun die modernste Stadt im Deutschen Reich war.
Koch führte auch das in England erfolgreiche „Leicester-System“ein. Es bestand aus drei verknüpften Prinzipien: Überwachung, Meldung, Isolierung. 90 Jahre später wurde diese Methode von der Weltgesundheitsorganisation WHO übernommen und seit 1977 gilt die Krankheit als ausgerottet.
Jede Seuche hat ihren Sündenbock: Waren es bei der Pest die Ungläubigen, vor allem die Juden, machte man für die Cholera vor allem Asiaten verantwortlich. Tuberkulose galt als Produkt dekadenten Wohlstands, Syphilis als Ergebnis liederlicher Moral, Typhus und Grippe als Ergebnis mangelnder Hygiene. Die US-Kulturtheoretikerin Susan Sontag schrieb in ihrem berühmten Buch über „Krankheit als Metapher“: „Die Epidemien besonders furchteinflößender Krankheiten lösen immer einen Aufschrei gegen Großzügigkeit oder Toleranz aus, die nun als Laxheit, Schwäche, Gesetzlosigkeit, Auflösung gelten.“
Jede Seuche infiziert auch die Gesellschaft und Kultur, in der sie sich ereignet. Die Verhaltensmuster sind ähnlich: Todesangst und Bittgottesdienste; die Suche nach Schuldigen und Sündenböcken, aber auch eine paradox erscheinende Vergnügungssucht: Verfall der Moral und Verrohung des Alltags; Flucht der Reichen und eine allgemeine Resignation – sie charakterisieren den Seuchenalltag ebenso wie die Selbstaufopferung mancher, nicht nur unter Ärzten. Aber es überwiegt die Angstspirale: Unruhe, Hysterie, Panik. Jede Epidemie ist auch eine der Emotionen.
Seuchen rühren an Urängste – auch in modernen Gesellschaften. Auch heute sind manche Krankheiten nicht beherrschbar. Vielleicht sind sie es dank der Mobilität und Globalisierung sogar weniger. Im Mittelalter brauchte die Pest immerhin fünf Jahre, um zur Pandemie zu werden, bei der Schweinegrippe vor einigen Jahren dauert es fünf Tage.
Wie würden wir selbst reagieren, wenn wir plötzlich mit einer der Pest des 14. Jahrhunderts vergleichbaren Seuche konfrontiert würden? Wenn von heute auf morgen der Tod wie Schnupfen übertragen würde? Die Erfahrung mit der im Vergleich zur Pest harmlosen Immunschwäche Aids lässt nichts Gutes ahnen. Und jetzt Corona? Schon Susan Sontag notierte die ironische Gewissheit: „Das moderne Leben gewöhnt uns daran, mit dem nachlassenden Bewusstsein monströser undenkbarer – aber wie man uns sagt recht wahrscheinlicher – Katastrophen zu leben.“