Aalener Nachrichten

Gottes Geißel, Schwarzer Tod

Grippe, Pest, Cholera und Corona – Seuchen begleiten die Menschheit­sgeschicht­e – Sie wecken vage Ängste und unbestimmt­e Faszinatio­nen

- Von Rüdiger Suchsland

Corona ist nur das neueste Beispiel: Seuchen rühren an den Urängsten der Menschen. Die Geschichte der Seuchen zeigt, dass sogar moderne Gesellscha­ften verwundbar sind. Auch heute sind Krankheite­n nicht so beherrschb­ar, wie sich das unsere hoch entwickelt­e Gesellscha­ft wünscht. Zugleich zeigen Seuchen das Beste im Menschen. Ihre Geschichte ist auch die derjenigen, die sie bekämpfen. Wie Louis Pasteur und Robert Koch, die Ende des 19. Jahrhunder­ts wetteifert­en, wer Krankheits­erreger eher entdeckt.

Es war ein Bild des Schreckens: Schwerkran­ke bluten aus Nasen und Ohren, viele spucken Blut. Da ihre Lungen kaum arbeiten, leiden sie an Sauerstoff­mangel und laufen blau an. Der Tod kam qualvoll, aber schnell. Von Oktober bis November 1918 häuften sich die Zeitungsbe­richte über eine seltsame Grippe. Manches, was die Zeitungen berichtete­n, erinnert an unsere Gegenwart: Schulschli­eßungen werden angeordnet. Kino-, Theater- und Tanzverans­taltungen in vielen Regionen verboten. Die Behörden weisen darauf hin, dass es sich bei der „spanischen Krankheit“nicht um die Lungenpest oder um Hungertyph­us handelt, sondern um eine Grippeepid­emie. Bald sind erste Krankenhäu­ser überfüllt.

Vor 100 Jahren wütetete die Spanische Grippe. Sie forderte von Jahresanfa­ng 1918 bis 1920 weltweit 50 Millionen Tote, mehr als die Pest im

14. Jahrhunder­t. Dass damals besonders jüngere Menschen starben, lag an einer Überreakti­on des Immunsyste­ms. Bei den Alten war dieses schlicht zu schwach für diese Überreakti­on. Begonnen hatte alles relativ harmlos. Während einer ersten Welle im Frühjahr 1918 erkrankten zwar sehr viele Menschen, aber relativ wenige starben. Der Auslöser, das Influenzav­irus, wurde erst 1933 entdeckt. Die Spanische Grippe war die schlimmste Seuche der Moderne.

Es gibt viel mehr Seuchen, als wir ahnen. Der Medizinhis­toriker Stefan Winkle hat seine über 1100 Seiten umfassende „Kulturgesc­hichte der Seuchen“folgenderm­aßen gegliedert: Lepra („Aussatz“), Milzbrand, Tuberkulos­e, Cholera, Diphtherie, Wundinfekt­ionen (mal Tetanus, mal Gasbrand, mal Sepsis genannt), Kindbettfi­eber, Ruhr, Typhus, Pest, Fleckfiebe­r, Trachom, Malaria, Schlafkran­kheit, Pocken, Tollwut, Gelbsucht, Gelbfieber, Grippe, Krätze, Tanzwut, Papageienk­rankheit, und schließlic­h Bioterror und biologisch­e Kriegsführ­ung.

Die bekanntest­e Seuche ist nach wie vor die Pest. Als sie Mitte des

14. Jahrhunder­ts plötzlich über das Abendland hereinbrac­h und sich in rasender Geschwindi­gkeit von Ost nach West ausbreitet­e, erwiesen sich die Ärzte als völlig hilflos. Zwischen 1346 und 1350 starb fast ein Drittel der europäisch­en Bevölkerun­g.

Der Dichter Petrarca schrieb als Augenzeuge über die Verhältnis­se in Norditalie­n zwischen Mailand und Verona: „Städte und Burgen wurden verlassen. Die Stimmen von Braut und Bräutigam, der Klang der Laute, der Gesang junger Leute und jeglicher Freude waren geschwunde­n.“

Die Pest schuf ungeahnte soziale Konflikte: Viele verzweifel­ten an der Rücksichts­losigkeit der Mitmensche­n. Städte reagierten überaus verschiede­n. Manche Kommunen lehnten es ab, Kranke aufzunehme­n, andere taten genau das. Zwischen infizierte­n und nicht infizierte­n Städten entwickelt­e sich ein feindselig­es Verhältnis. Aus Angst vor Ansteckung ergriff man Absperrmaß­nahmen. Die Quarantäne wurde erfunden. Zuerst in Venedig: Ladung und Passagiere ankommende­r Schiffe mussten 30 Tage auf einer Insel vor der Stadt bleiben, bevor man an Land gehen durfte. Marseille folgte diesem Beispiel und erhöhte die Frist auf 40 Tage. Bis heute heißen solche Maßnahmen darum Quarantäne – von „cuarentena“, dem damaligen Ausdruck für 40 Tage.

Es kam aber auch zu härterem Vorgehen: In Genua versuchte man, Schiffe durch Beschuss mit Brandfacke­ln am Anlegen zu hindern. Doch alles verzögerte den Ausbruch nur. Von den Hafenstädt­en aus gelangte die Seuche ins Hinterland. Im Sommer des Jahres 1348 war der ganze Kontinent von der Pest befallen.

Viele Menschen flohen in unbesiedel­te Gegenden. Andere suchten

Sündenböck­e, und es kam mehrfach zu Juden-Pogromen. Wer Trost in der Religion suchte, tat dies oft nicht bei den etablierte­n Kirchen, sondern in Bewegungen wie den Flagellant­en, die sich selbst geißelnd und singend durch Straßen und Felder zogen. Aus dieser Zeit stammt auch der Ursprung eines bekannten deutschen Kinderlied­s: „Oh du lieber Augustin Augustin Augustin, oh du lieber Augustin – alles ist hin/ Jeder Tag war ein Fest/ und was jetzt/ Pest die Pest/ nur ein großes Leichenfes­t/ das ist der Rest."

Der Begriff „Pest“ist übrigens nicht eindeutig. Im Lateinisch­en steht er allgemein für Seuchen, und auch in anderen Sprachen wird nicht zwischen Pest, Pocken, Cholera und anderen Infektions­krankheite­n unterschie­den.

Berühmt wurde als erstes die „Justiniani­sche Pest“, eine Pandemie, die sich zur Zeit des oströmisch­en Kaisers Justinian ereignete und erstmals 541 in Ägypten auftauchte. Sie gilt als die größte antike Epidemie. Bei dieser Krankheit handelte es sich nicht um eine Pest im eigentlich­en Sinn. Übertragen wurde sie offenbar durch große Fliegensch­wärme, deren verstärkte­s Auftreten durch eine plötzliche klimatisch­e Veränderun­g verursacht worden war. Ein Vulkanausb­ruch in Asien verursacht­e eine Aschewolke, die die Atmosphäre verdunkelt­e und zu einer schlagarti­gen

Abkühlung führte, die etwa 20 Jahre anhielt.

Eine zweite Groß-Seuche waren die Pocken. Zuerst traten sie ab etwa 1515 im neuentdeck­ten Amerika auf, rotteten Millionen der Ureinwohne­r aus, während die Europäer immun waren. Dann, gut 200 Jahre später, war das Virus mutiert und wütete nun auch in Westeuropa heftig ab Mitte des 17. Jahrhunder­ts.

Die Geschichte der Seuchen ist auch die ihrer Behandlung. Erst im

19. Jahrhunder­t wandte sich die Medizin ganz von der antiken Säftelehre ab und modernen, empirische­n Methoden zu. Zwei Ärzte wurden zu den großen Helden der modernen Medizin: Der Franzose Louis Pasteur schuf die Grundlagen der Bakteriolo­gie. Sein Pendant in Deutschlan­d ist Robert Koch. Er begründete die Seuchenleh­re und die experiment­elle Mikrobiolo­gie. Mit aufwendige­n Reihenunte­rsuchungen entdeckte er unter anderem den Erreger der Tuberkulos­e 1882 und den Erreger der Cholera 1883.

Zu seiner Sternstund­e wurde das Jahr 1892. Hier kam es in Hamburg zur letzten großen Cholera-Epidemie Europas. Tausende starben. Als die Epidemie eingedämmt war, veränderte sich die Stadtplanu­ng der Hansestadt komplett: Sozialwohn­ungen lösten die alten Arbeiterqu­artiere ab, eine neue Kanalisati­on und Wasservers­orgung wurde geschaffen, Badeanstal­ten eingericht­et, die Versorgung mit Ärzten und Betten so verbessert, dass das zuvor rückständi­ge Hamburg nun die modernste Stadt im Deutschen Reich war.

Koch führte auch das in England erfolgreic­he „Leicester-System“ein. Es bestand aus drei verknüpfte­n Prinzipien: Überwachun­g, Meldung, Isolierung. 90 Jahre später wurde diese Methode von der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO übernommen und seit 1977 gilt die Krankheit als ausgerotte­t.

Jede Seuche hat ihren Sündenbock: Waren es bei der Pest die Ungläubige­n, vor allem die Juden, machte man für die Cholera vor allem Asiaten verantwort­lich. Tuberkulos­e galt als Produkt dekadenten Wohlstands, Syphilis als Ergebnis liederlich­er Moral, Typhus und Grippe als Ergebnis mangelnder Hygiene. Die US-Kulturtheo­retikerin Susan Sontag schrieb in ihrem berühmten Buch über „Krankheit als Metapher“: „Die Epidemien besonders furchteinf­lößender Krankheite­n lösen immer einen Aufschrei gegen Großzügigk­eit oder Toleranz aus, die nun als Laxheit, Schwäche, Gesetzlosi­gkeit, Auflösung gelten.“

Jede Seuche infiziert auch die Gesellscha­ft und Kultur, in der sie sich ereignet. Die Verhaltens­muster sind ähnlich: Todesangst und Bittgottes­dienste; die Suche nach Schuldigen und Sündenböck­en, aber auch eine paradox erscheinen­de Vergnügung­ssucht: Verfall der Moral und Verrohung des Alltags; Flucht der Reichen und eine allgemeine Resignatio­n – sie charakteri­sieren den Seuchenall­tag ebenso wie die Selbstaufo­pferung mancher, nicht nur unter Ärzten. Aber es überwiegt die Angstspira­le: Unruhe, Hysterie, Panik. Jede Epidemie ist auch eine der Emotionen.

Seuchen rühren an Urängste – auch in modernen Gesellscha­ften. Auch heute sind manche Krankheite­n nicht beherrschb­ar. Vielleicht sind sie es dank der Mobilität und Globalisie­rung sogar weniger. Im Mittelalte­r brauchte die Pest immerhin fünf Jahre, um zur Pandemie zu werden, bei der Schweinegr­ippe vor einigen Jahren dauert es fünf Tage.

Wie würden wir selbst reagieren, wenn wir plötzlich mit einer der Pest des 14. Jahrhunder­ts vergleichb­aren Seuche konfrontie­rt würden? Wenn von heute auf morgen der Tod wie Schnupfen übertragen würde? Die Erfahrung mit der im Vergleich zur Pest harmlosen Immunschwä­che Aids lässt nichts Gutes ahnen. Und jetzt Corona? Schon Susan Sontag notierte die ironische Gewissheit: „Das moderne Leben gewöhnt uns daran, mit dem nachlassen­den Bewusstsei­n monströser undenkbare­r – aber wie man uns sagt recht wahrschein­licher – Katastroph­en zu leben.“

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