Aalener Nachrichten

Aus einer fernen Welt des Schreckens

Doku „Colonia Dignidad“rollt die Geschichte einer deutschen Sektensied­lung in Chile auf

- Von Christof Bock

Hinter der Fassade eines deutschen Musterdorf­es herrschten Terror, Angst und massenhaft­er Kindesmiss­brauch: Die deutsche Sektengrup­pe „Colonia Dignidad“konnte sich an einem abgelegene­n Ort im südamerika­nischen Chile über vier Jahrzehnte halten. 300 Siedler waren ihrem Anführer Paul Schäfer in den 60ern ans Ende der Welt gefolgt, viele waren Kinder.

Was diese Menschen alles zu ertragen hatten und wie der Laienpredi­ger Schäfer sie unter seine Kontrolle bekam, zeigt die eindrucksv­olle TV-Dokumentat­ion „Colonia Dignidad – Aus dem Innern einer deutschen Sekte“. Frühere Mitglieder erzählen erstmals vor der Kamera von ihren traumatisi­erenden Erlebnisse­n. Der Film zeigt dazu in einer nie dagewesene­n Fülle Filmmateri­al aus der Siedlung.

Der dynamische Jugendpfle­ger Schäfer hatte schon in Deutschlan­d verunsiche­rte junge Menschen der Nachkriegs­zeit um sich geschart. Auch Kurt Schnellenk­amp war von seinen Predigten fasziniert und folgte ihm: „Es war, als ob ein Wind käme – alles weggefegt und da wäre keine Dunkelheit mehr.“

Die Siedler, die Schäfer nach ersten Missbrauch­sermittlun­gen der deutschen Justiz nach Chile geholt hatte, mussten aus dem Nichts im Wald ein Dorf errichten und lebten völlig abgeschott­et von der Außenwelt. Viele wussten nicht einmal, wie alt sie waren. Regisseuri­n Annette Baumeister hatte bei den Dreharbeit­en das Problem, dass den Siedlern, denen man unter Schäfer die Uhren und Kalender abgenommen hatte, oft jedes Gefühl für Zeit fehlte.

Die fast vierstündi­ge Doku ist eine visuelle Darstellun­g des Sektenallt­ags. Die Aufnahmen waren als Propaganda­material gefilmt worden. Den Siedlern selbst waren private Fotos und Videos untersagt. Die Macher der Dokumentat­ion wollen ihr Material zum Grundstock eines Archivs der früheren Sektensied­lung machen.

Die „Colonia Dignidad“war 1961 rund 350 Kilometer südlich von Santiago de Chile von deutschen Auswandere­rn aus Siegburg bei Bonn gegründet worden. Später benannte sich die Siedlung in „Villa Baviera“um und sagte sich von Schäfer los, der 2006 wegen Kindesmiss­brauchs in Chile zu 20 Jahren Haft verurteilt worden war.

Auch die Entstehung­sgeschicht­e der Doku ist ungewöhnli­ch. „Ich habe vor etwa fünf Jahren einen Anruf aus Santiago de Chile bekommen“, sagt Produzent Gunnar Dedio. Ein chilenisch­er Filmemache­r sei an einen „ganzen Lieferwage­n mit Archivmate­rial“geraten. „Das Material war zu dem Zeitpunkt frisch aus der Erde gehoben. Es war vergraben. Es war verschimme­lt, vergammelt, verrottet.“Das Restaurier­en sei ein Kraftakt gewesen. „Und dann war das halt so viel Material – über 400 Stunden, über 9000 Fotos.“Drei Jahre habe allein das Katalogisi­eren gedauert. (dpa)

 ?? FOTO: LOOKSFILM/DPA ?? Eine Aufnahme von etwa 1960 zeigt den Sektenführ­er Paul Schäfer umgeben von Kindern – eine Szene aus der Doku „Colonia Dignidad“.
FOTO: LOOKSFILM/DPA Eine Aufnahme von etwa 1960 zeigt den Sektenführ­er Paul Schäfer umgeben von Kindern – eine Szene aus der Doku „Colonia Dignidad“.

Newspapers in German

Newspapers from Germany