Historische Sauerei
Schmähskulpturen gegen Juden, die bis heute an Kirchen hängen, erhitzen die Gemüter und beschäftigen Gerichte – In Bad Wimpfen bei Heilbronn soll die „Judensau“trotzdem sichtbar am Gotteshaus bleiben
- Die Ritterstiftskirche in Bad Wimpfen ist in diesen Tagen ein ungemütlicher Ort. Ein Baugerüst durchzieht das Kirchenschiff und reicht vom Boden bis hoch unter die gotische Decke. Der Innenraum ist in Dunkelheit getaucht, in den Ecken flackern nur einige Kerzen, und die Luft ist angefüllt mit Kälte und Feuchtigkeit. Alles atmet im wahrsten Sinne Geschichte in diesem Bauwerk, dessen Anfänge bis in das zehnte Jahrhundert zurückreichen. „Zeitweise haben wir daran gedacht, St. Peter als Weltkulturerbe anzumelden“, sagt Stadtarchivar Günther Haberhauer, der vor dem Eingangsportal wartet, wo die beiden romanischen Kirchentürme in den Himmel ragen. Dann führt er den Besucher zu jener Stelle, die in gewisser Weise auch Welterbe ist, sich aber genauso als Erblast bezeichnen lässt.
Am Südgiebel hängen an der Außenfassade in etwa sieben Meter Höhe diverse Wasserspeier. Die Darstellungen zeigen Fabelwesen, fratzenhafte Figuren von teuflischer Anmutung. Mittendrin: Die Skulptur eines Juden, erkennbar an seinem trichterförmigen Hut, der gierig an der Zitze eines Mutterschweins saugt. Mit der freien Hand wehrt er ein Ferkel ab, das ihm die Milch streitig machen will. Ein bizarres Bildnis, das dort seit rund 750 Jahren hängt. Und so soll es auch bleiben. „Wenn wir die ,Judensau’ wegmachen würden“, sagt Haberhauer und blickt hoch, „dann würden wir eine Stelle entfernen, die zu Diskussionen provoziert.“Daran fehlt es in der Tat nicht, auch Juristen beschäftigen die Spottdarstellungen.
Zurück gehen die Bildnisse der „Judensau“auf das Mittelalter, in dem sie vor allem an Kirchen angebracht wurden. Juden, die Zitzen nuckeln oder am
After eines Schweins schnüffeln. Diffamierende Motive übelster Sorte, gilt den Juden das Schwein als unkoscheres, also unreines Tier, das es zu meiden gilt. Die Botschaft dahinter ist klar: Den Juden wird Sodomie und Sünde unterstellt, Falschheit im Glauben, Gier und Maßlosigkeit. Die Werke sind erniedrigend, verhöhnend und verletzend. Sie gelten als Auswuchs christlichen Antijudaismus’.
Im deutschsprachigen Raum, wo sie vorwiegend Verbreitung fanden, gibt es noch rund 30 dieser Machwerke. Darunter auch einige an prominenten Bauten, etwa ein Wasserspeier am Kölner Dom sowie ein Relief im Chorgestühl, in Basel am Münster, in Regensburg am Dom, am Bamberger Dom. Im Ravensburger Humpis Museum gibt es analoge Bildnisse, Schmähziegel, die um 1400 entstanden sind und vom Dach des Grünen Turms stammen, in dessen Nachbarschaft sich einst das jüdische Ghetto befand. Sie zeigen einen grotesken Kopf mit Glubschaugen und sollten offenbar den Juden signalisieren, sich nicht in der Stadt niederzulassen. Die bekannteste Boshaftigkeit dieser Art ist allerdings das Relief an der
Stadtkirche in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) – in der aktuellen Debatte der Stein des Anstoßes. Auf dem Sandsteinrelief aus dem
13. Jahrhundert ist ein Rabbiner zu sehen, der den Ringelschwanz eines Wildschweins anhebt und in den After schaut. Luther höchstpersönlich bezog sich auf das Relief in einer antijüdischen Schrift, er höhnte, der Rabbiner gucke „in den Thalmud hinein, als wolt er etwas scharffes und sonderlichs lesen und ersehen“. Michael Blume, Antisemitismus-Beauftragter von SachsenAnhalt, sagte zu Luthers Schrift: „Es ist eine Aneinanderreihung antisemitischer Beschimpfungen.“Die Wittenberger Skulptur könne daher nicht Teil eines christlichen Ensembles sein – sie müsse ins Museum. Das hatte schon der britische Theologe Richard Harvey in einer Petition zum Luther-Jubiläumsjahr 2017 gefordert. „Als messianischer Jude fühle ich mich angegriffen“, erklärt er, man solle die Figur abnehmen. Genau das will jetzt ein 76-jähriger Theologe erreichen, der zum Judentum konvertierte, er sieht in dem Bildnis eine Beleidigung und klagte auf Beseitigung. Ohne Erfolg. Anfang Februar wies das Oberlandesgericht Naumdorf die Klage ab, lies aber eine Revision beim Bundesgerichtshof zu. Der BGH könnte ein Grundsatzurteil fällen, das maßgeblich sein könnte für andere antijüdische Plastiken.
Darauf will Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle (CSU) nicht warten, es bestehe „dringender Handlungsbedarf“, deshalb lädt er zu einem Runden Tisch mit Vertretern der Kirchen und der Israelitischen Kultusgemeinden, um den Umgang
„Mit der Judensau gab und gibt sich das Böse selbst zu erkennen.“
Historiker Michael Wolffsohn ist dagegen, die mittelalterlichen Schmähskulpturen zu entfernen mit den „Judensau“-Darstellungen zu klären. Auch Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden, stellt abseits juristischer Instanzen Forderungen: „Wenn das Relief in Wittenberg hängen bleiben soll“, sagte er, „sollte dort auf jeden Fall eine Tafel angebracht werden, die es eindeutig erläutert und in den historischen Kontext einordnet.“Entsprechendes hat der Wittenberger Stadtpfarrer Johannes Block schon angekündigt. Trotzdem ist die Kluft tief zwischen den Befürwortern einer Entfernung der Skulptur und jenen, die dafür plädieren, mit solchen Schmähbildnissen zu leben.
Zu letzteren zählt der Historiker Michael Wolffsohn. „Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden“, sagt Wolffsohn auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. „Wer es versucht, betreibt Geschichtsklitterung beziehungsweise -fälschung.“Die Bildnisse aus dem Mittelalter müssten allein deshalb hängen bleiben, um Absicht und Urheber dahinter zu entlarven: „Mit der ,Judensau’ gab und gibt sich das Böse selbst zu erkennen“, betont Wolffsohn. „Die ,Judensau’ ist eben, ganz wörtlich, eine Sauerei. Dieser Bildfluch schlägt auf den Fluchenden zurück. Leichter als hier ist also das Böse an sich kaum erkennbar.“
Auch in Bad Wimpfen erkennt man eine zwar schmerzhafte, aber auch reinigende Wirkung durch das präsente Schmähbildnis. „Wir haben einiges in der Geschichte, das wir gerne verbergen würden“, sagt Stadtarchivar Haberhauer. „Aber dazu müssen wir stehen. Wir können doch nicht so tun, als wäre nichts gewesen.“Dabei hätte es eine Gelegenheit gegeben, die Skulptur zu verbannen. Mitte der 1990erJahre wurde das Original abgenommen und eine Kopie in Sandstein gehauen, die nun am Südgiebel hängt. „Damals gab es die Diskussionen noch nicht“, sagt Haberhauer.
„Dazu müssen wir stehen. Wir können doch nicht so tun, als wäre nichts gewesen.“
Als sie aufkamen, entschloss sich das Bistum zu einer Tafel unterhalb der „Judensau“. In dem Text wird die Hohnskulptur erklärt und der durch Christen geschürten Pogrome gegen Juden gedacht. „Diese Schuld ist unauslöschlich“, heißt es auf der Tafel.
„Wir haben uns in Bad Wimpfen unserer jüdischen Vergangenheit gestellt“, bekräftigt der Stadtarchivar. So liegt die Original-„Judensau“im Städtischen Museum, in der Altstadt sind sogenannte Stolpersteine verlegt und eine Gedenktafel erinnert an die Ermordeten. „Juden waren hier lange ein wichtiger Teil der Gesellschaft“, sagt Günther Haberhauer. Ihre Ursprünge in Bad Wimpfen reichen ins 13. Jahrhundert zurück, sie trieben Handel, waren in Vereinen aktiv, begründeten Parteien und sind als Soldaten im Ersten Weltkrieg für das Vaterland gefallen. Noch heute, so Haberhauer, kommen aus Israel oder den USA Nachkommen in die Stadt, um ihrer oft traumatischen Familiengeschichte nachzuspüren. Der Historiker zeigt ihnen dann, wo ihre Vorfahren das Laubhüttenfest gefeiert haben, wo ihre Fachwerkhäuser noch stehen, wo sie auf dem jüdischen Friedhof die letzte Ruhe fanden. Und wo an St. Peter die „Judensau“hängt. „Dass wir sie abnehmen sollten, hat noch keiner gewollt.“Und dennoch: Ist es nicht nachvollziehbar, dass es auch Menschen gibt, die sich von der öffentlich zur Schau gestellten Schmähung verletzt fühlen? Muss man diesen Gefühlen nicht Rechnung tragen?
„Ja, aber kein einzelner Mensch ist das Maß aller anderen Menschen“, entgegnet Michael Wolffsohn. „Umgekehrt fühle nicht nur ich mich durch diesen Mann (den Kläger von Wittenberg, die Red.) bevormundet“, so der Historiker. „Toleranz bedeutet immer, dass man die Sichtweise der anderen ertragen und nicht unbedingt billigen muss. Das darf ich von jenem Kläger erwarten.“
Die Debatten um Wittenberg und Bad Wimpfen sieht Wolffsohn hingegen positiv, auch wenn sie keine neue Erscheinung seien. „Jede Generation meint, die Vergangenheit erstmals zu entdecken. Das erleben wir jetzt erneut“, sagt er. „Ähnlich ist es mit Epidemien, auch wenn sie früher nicht ,Corona‘ hießen. Epidemien gab es in der Menschheitsgeschichte immer. Das macht sie für die jeweils Betroffenen freilich keinesfalls erträglicher. Und Antisemitismus ist eine der ältesten Epidemien.“
Die Ritterstiftskirche in Bad Wimpfen ist dafür ein Zeugnis, nicht nur durch den umstrittenen Wasserspeier. So ist an dem schmucken Südportal ein Halbrelief zu sehen mit einer Kreuzigungsszene. „Schauen Sie, der schön gebogene Jesus“, sagt Haberhauer. Links neben dem Kreuz ist Ecclesia dargestellt, sie personifiziert das Christentum, strahlend, stolz und überlegen. Rechts steht Synagoga, stellvertretend für das Judentum. Ihre Lanze ist gebrochen, die Krone liegt auf dem Boden, sie ist gebeugt und unterlegen. „Das Bild sagt viel aus über das damalige Verhältnis von Christen zu Juden“, erklärt der Archivar. Anstoß genommen an dem Relief hat aber noch niemand.
Günther Haberhauer, Stadtarchivar in Bad Wimpfen