Joe Bidens bodenständige Basis
Im Rennen um die Präsidentschaft galt Obamas ehemaliger Vize als abgeschrieben – bis die schwarzen Wähler das Wort hatten
- Auf dem Basketballfeld üben junge Männer das Dribbeln mit Ball. Zwei Teenager knattern auf Motocross-Motorrädern über die Hügel des Parks. In der Mitte, in einer Senke, ein Schwimmbad, die Wiesen begrenzt von einem schäbigen Maschendrahtzaun. Der BrownBurton Winchester Park ist nicht der schlechteste Ort für einen Anfang, wenn man versuchen will, dem Phänomen „Joe Biden und die Afroamerikaner“nachzugehen.
An dem Schwimmbecken, mitten in einem Schwarzenviertel, hat Joe Biden einst als Junior-Bademeister gearbeitet. Er hat sich erst Achtung erworben und dann Freunde gefunden, Gleichaltrige mit Spitznamen wie Mouse, Marty und Corn Pop. Einer von ihnen, Richard „Mouse“Smith, hat neulich erzählt, warum sich der 19-jährige Biden für den Sommerjob bewarb und was ihn von anderen weißen Teenagern seiner Zeit unterschied. „Die meisten wollten damals gar nicht wissen, was wir zu sagen hatten. Aber Joe, der wollte alles über uns wissen.“
Später wurde Smith Präsident der NAACP, einer der ältesten Bürgerrechtsorganisationen des Landes, im Bundesstaat Delaware. Und als das kleine Bad im Brown-Burton Winchester Park 2017 nach Biden benannt wurde, ein wenig dick aufgetragen heißt es heute „Joseph R. Biden Jr. Aquatic Center“, hielt er die Laudatio auf den alten Freund. Der wiederum schrieb in seinen Memoiren, er habe den Job in einer afroamerikanischen Wohngegend gewollt, weil ihm die Bilder aus den Südstaaten, die Bilder knüppelnder Polizisten im Einsatz gegen schwarze Bürgerrechtler, unter die Haut gingen. Und weil er Schwarze bis dahin praktisch nicht kannte, so gut wie keine Kontakte zu ihnen hatte.
Wilmington ist die größte Stadt des kleinen Bundesstaats Delaware. Biden hat Delaware 36 Jahre lang im US-Senat vertreten. Am Anfang stand eine furchtbare Tragödie. Er war 30, gerade gewählt, als das Auto mit seiner Frau Neilia am Lenkrad mit einem Sattelschlepper zusammenprallte. Neilia und die einjährige Tochter Naomi bezahlten den Unfall mit ihrem Leben. Die Söhne Hunter und Beau, zwei und drei, lagen wochenlang im Krankenhaus. Biden spielte, wie er später offenbarte, mit Selbstmordgedanken. Seinen Senatssitz wollte er aufgeben, worauf ihm ältere Kollegen zuredeten, es doch wenigstens für sechs Monate zu versuchen. Um abends bei seinen Söhnen zu sein, pendelte er fortan täglich zwischen Wilmington und Washington, sodass es irgendwann hieß, er sei der treueste Zugpassagier der Republik.
Wilmington also hat Bidens Ruf begründet, den Ruf eines bodenständigen Politikers, der gern die Nähe anderer Menschen sucht, gerade auch solcher, die es im Leben nicht leicht hatten. Zwar ist Wilmington die amerikanische Hochburg der Briefkastenfirmen, denen der Staat Delaware großzügige Steuervorteile gewährt, doch jenseits des gepflegten Finanzviertels ist es eine ziemlich arme Stadt. Rund sechzig Prozent der Bewohner haben dunkle Haut, die meisten leben in bescheidenen Reihenhäusern, wie sie den Brown-Burton Winchester Park säumen.
Es sind hauptsächlich schwarze Wähler, denen Biden sein Comeback bei den Vorwahlen der demokratischen Präsidentschaftskandidaten zu verdanken hat. Seinen Siegeszug nach bitteren Enttäuschungen zum Auftakt in Iowa und New Hampshire. Viele hatten ihn bereits abgeschrieben, zumal er nicht nur verlor, sondern auch so müde, so unmotiviert wirkte, als kämpfe er nicht wirklich um das Amt im Weißen Haus. In South Carolina, wo die Parteibasis der Demokraten mehrheitlich aus Afroamerikanern besteht, gelang ihm die Wende. Danach ging es Schlag auf Schlag, und überall dort, wo Afroamerikaner stark vertreten waren, verwies er seinen Rivalen Bernie Sanders besonders klar in die
Schranken. Jetzt ist er de facto am Ziel, nur theoretisch, aber nicht praktisch kann Sanders ihn noch einholen im Rennen um die Delegiertenstimmen. Schwarze Wähler, das ist die Quintessenz, haben Biden erst vor dem Absturz gerettet und ihn dann auf den Kandidatenthron gehoben.
Edward Harrison will die Gründe dafür nennen. Man übertreibt höchstens ein bisschen, wenn man ihn die gute Seele von New Castle nennt, eines tristen Vororts südlich von Wilmington. Harrison, 55 Jahre alt, ist vieles in einer Person: Sozialarbeiter, Kaffeehausbetreiber und Friseur. Er versucht zu verhindern, dass Heranwachsende auf die schiefe Bahn geraten. Er schreibt praktische Essays über den richtigen Umgang mit knappem Geld. Sein „Pryme Styles Barbershop & Café“ist so etwas wie die soziale Drehscheibe im tristen New Castle.
Am dritten Samstag im März, zwei Tage bevor die Alarmstimmung auch die USA erreicht und sich die meisten aus Angst vor dem Coronavirus freiwillig in Quarantäne begeben, herrscht dort Hochbetrieb. Man kommt nicht nur zum Haareschneiden zu Harrison, sondern auch, um in gemütlicher Runde zu reden. Jeder hier hat eine Meinung zu Biden, fast jeder hat ihm irgendwann schon mal die Hand geschüttelt, und keiner macht sich Illusionen. Dass der alte Mann, der sich beim Reden so häufig verhaspelt, kein idealer Kandidat ist, will keiner bestreiten. „Aber schlechter als jetzt kann es nicht werden“, sagt Edward Harrison jr., der Sohn des Besitzers. Mit Donald Trump sitze jemand im Oval Office, der sich nur für sich selbst interessiere. „Ich will, dass er abgelöst wird. Durch wen, ist mir völlig egal. Hauptsache, wir schicken ihn im November nach Hause.“Sein Herz, sagt der junge Mann mit den Dreadlocks noch, schlage für Bernie. Der aber habe nun mal keine Chance, gegen Trump zu gewinnen, dazu stehe er einfach zu weit links von der Mitte. Der Kopf sage: Biden.
Harrison senior hat sich Zeit genommen, er will es gründlich erklären, das Phänomen. Biden, beginnt er, sei gewiss nicht mit dem Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen. Wie er sich aus einfachen Verhältnissen nach oben gearbeitet habe, wüssten schwarze Amerikaner ganz besonders zu schätzen. Sein Vater, ein Autoverkäufer, hatte zu kämpfen, einmal musste die Familie bei den Eltern der Mutter einziehen, weil sie sich kein eigenes Dach über dem Kopf leisten konnte. „Biden ist einer von uns“, fasst es Harrison zusammen. Dann wäre da noch der historische Durchbruch des Novembers 2008, die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten. Am Wahlabend fuhr Harrison mit dem Auto durch Philadelphia. Als er die jubelnden Massen sah, ließ er es stehen, um spontan mitzufeiern. Ähnliches habe er seither nur noch einmal erlebt, vor zwei Jahren, als die Eagles aus Philadelphia den Super Bowl gewannen, das Finale der Football-Liga. „Dieses Gefühl!“, schwärmt Harrison. „Und Joe Biden war Teil davon. Obama/Biden stand ja damals auf den Wahlplakaten. Das vergisst du dein Leben lang nicht.“
Nun kommt einiges zusammen in den 36 Jahren, die Obamas Vize im Kongress in Washington verbrachte. Jede Menge Ballast, wie Bidens Kritiker anmerken. Vor Monaten hat sich der Senator aus Delaware der Tatsache gerühmt, dass er trotz großer Differenzen mit jedem in der Kammer kooperieren konnte. Als Beispiele nannte er ausgerechnet James Eastland und Herman Talmadge, der eine aus Mississippi, der andere aus Georgia, zwei Parteifreunde, die noch in den Siebzigern entschiedene Fürsprecher der Rassentrennung waren.
In den Neunzigern schrieb Biden mit an Gesetzen, die Straftaten mit derart drakonischer Härte ahndeten, dass die Zahl der Gefängnisinsassen, unter ihnen überproportional viele Afroamerikaner, steil stieg. Harrison sieht das alles gelassen. Sein Tenor: Die Zeiten ändern sich, Menschen machen Fehler, um im Idealfall daraus zu lernen, so sei das nun mal im Leben. Biden, sagt er zum Schluss, stehe für solide Berechenbarkeit, während er bei Trump das Gefühl habe, über eine wacklige, baufällige Brücke zu laufen, auf der man nie wisse, wann sie zusammenkrache. Jubeln würde er vielleicht nicht, wenn der nächste Präsident Joseph Robinette Biden hieße. Aber er würde aufatmen.