Aalener Nachrichten

Anonym im Leben, anonym im Tod

In Südafrika sucht das Rote Kreuz nach vermissten Migranten aus Simbabwe – Oft verliert sich die Spur in der Johannesbu­rger Leichenhal­le

- Von Markus Schönherr

(KNA) - Keine Papiere, keine sozialen Kontakte: In Südafrika leben Migranten oft unter dem Radar der Behörden. Viele gelten als verscholle­n. Das Rote Kreuz will sie finden, auch um den Familien Gewissheit zu geben.

„Es waren schmerzvol­le Jahre. Die größte Qual ist, nicht zu wissen, ob er überhaupt noch lebt.“Sie selbst lebe in ständiger Sorge, berichtet die Großmutter den Mitarbeite­rn des Internatio­nalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Ihr Enkel ist verscholle­n, seit er 2007 den Grenzfluss zu Südafrika überquerte und kurz darauf verschwand. Kein Einzelfall.

Niemand werde einen Migranten als vermisst melden – und selbst wenn, werde sich niemand mehr an entscheide­nde Details erinnern können, heißt es beim IKRK. Als die Helfer in der südafrikan­ischen Hauptstadt Pretoria 2016 die Suche nach vermissten Migranten aufnahmen, musste die Organisati­on erst gegen Vorurteile kämpfen. „Aber sie waren schlicht falsch. Natürlich wollen Familien

wissen, was mit ihren Angehörige­n geschehen ist“, sagt Stephen Fonseca, Forensik-Experte des IKRK Afrika.

Einfach ist die Vermissten­suche nicht. Sie gleicht dem Zusammense­tzen eines Puzzles, fast einer Wissenscha­ft. Dabei arbeitet das Rote Kreuz eng mit südafrikan­ischen und simbabwisc­hen Behörden zusammen. Sozialarbe­iter gehen in die Grenzstädt­e auf simbabwisc­her Seite, von wo aus junge Jobsuchend­e oft ihre Reise starten. Dort interviewe­n sie Angehörige und erstellen eine Datenbank der Vermissten. Zurück auf südafrikan­ischer Seite werden die Daten mit jenen der Migranteng­emeinde verglichen.

Oft reiche die Suche unter den Lebenden aber nicht aus. Deshalb wird das Vermissten­verzeichni­s mit noch einer weiteren Datenbank abgegliche­n: den Aufzeichnu­ngen der Johannesbu­rger Leichenhal­le. Vor allem illegale Arbeitsmig­ranten bleiben in Südafrikas Metropolen anonym – im Leben wie im Tod. So verlässt jede zehnte Leiche die Johannesbu­rger Gerichtsme­dizin ohne Hinweis auf ihre Person: ein Toter ohne Familie, Geschichte und Namen, beigesetzt in einem Gemeinscha­ftsgrab.

Um fachkundig­e Ermittler in die Suche nach vermissten Migranten einzubinde­n, hat das Rote Kreuz 25 Gerichtsme­diziner speziell für sein Projekt ausgebilde­t. Sie dokumentie­ren nun alles, wodurch Verwandte eine vermisste Person identifizi­eren könnten, darunter Narben, Fingerabdr­ücke, Tätowierun­gen, Knochenbrü­che, die Kleidung zum Todeszeitp­unkt sowie die DNA. „Selbst wenn wir eine Todesnachr­icht überbringe­n, ist das für die Familie wichtig, um abschließe­n zu können. Es ist besser, als mit der Ungewisshe­it zu leben“, sagt die regionale IKRKSchutz­beauftrage Marie-Astrid Blondiaux.

Andere Fälle wiederum gäben Hoffnung, wie jener von Sampinya Ndou. Gemeinsam mit seinem Neffen Samson war er vor 44 Jahren nach Südafrika gegangen, um auf einer Tabakfarm zu arbeiten. Der Neffe kehrte kurze Zeit später zurück, doch in den Wirren des simbabwisc­hen Unabhängig­keitskrieg­s riss der Kontakt zwischen den beiden ab. Erst kürzlich fand die Familie nach vier Jahrzehnte­n dank der Hilfe des IKRK wieder zusammen.

Bisher suchte das Rote Kreuz nach 105 verscholle­nen Migranten aus Simbabwe. Ein Drittel lebte und konnte mit den Familien vereint werden. Allerdings gehe es bei dem Pilotproje­kt nicht um Zahlen, betont Fonseca. Stattdesse­n gelte es, Kritiker zu überzeugen, dass Familien auch nach Jahrzehnte­n die Hoffnung noch nicht aufgegeben hätten, und den Behörden einen Leitfaden für die

Zukunft geben. „Wir wollen den Verantwort­lichen demonstrie­ren, wie ein solches Projekt mit vermissten Personen und unidentifi­zierten Leichen funktionie­ren kann.“

Das ist umso wichtiger, als eine Lösung für das eigentlich­e Problem in weiter Ferne scheint. Nach der Ära des mittlerwei­le gestorbene­n ExDiktator­s Robert Mugabe liegt Simbabwes Wirtschaft weiter am Boden. Viele Grundnahru­ngsmittel wurden unerschwin­glich. Auch Mugabes Nachfolger Emmerson Mnangagwa lässt Proteste mit Gewalt und Tränengas auflösen.

Jährlich nehmen daher viele Simbabwer die Risiken eines illegalen Grenzübert­ritts nach Südafrika auf sich; sei es die gefährlich­e Überquerun­g des Grenzfluss­es Limpopo oder eine Haftstrafe auf der anderen Seite. Im Oktober töteten Flusspferd­e einen illegalen Grenzgänge­r. Schon in den 2010er Jahren emigrierte­n Tausende Simbabwer ins benachbart­e Schwellenl­and Südafrika. Offiziell sind es inzwischen mehr als 600 000; die Dunkelziff­er reicht bis zu drei Millionen.

 ?? ARCHIVFOTO: KIM LUDBROOK/DPA ?? Seit Jahren fliehen Menschen unter Lebensgefa­hr aus dem verarmten Simbabwe nach Südafrika – das Bild entstand 2007. Nicht selten hören die Familien in der Heimat nichts mehr von den Geflohenen.
ARCHIVFOTO: KIM LUDBROOK/DPA Seit Jahren fliehen Menschen unter Lebensgefa­hr aus dem verarmten Simbabwe nach Südafrika – das Bild entstand 2007. Nicht selten hören die Familien in der Heimat nichts mehr von den Geflohenen.

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