Aalener Nachrichten

Die Schweiz hat es schwer erwischt

Angesichts der zahlreiche­n Corona-Fälle wird harsche Kritik an Behörden und Politik laut

- Von Jan Dirk Herbermann

- In der Schweiz hat Bundespräs­identin Simonetta Sommaruga bereits die „außerorden­tliche Lage“ausgerufen – und das Land in der Mitte Europas machte fast komplett dicht: Die Regierung schloss Geschäfte, mottete Skistation­en ein, verriegelt­e Grenzen und beorderte bis zu 8000 Soldaten in den Kampf gegen die Ausbreitun­g der gefährlich­en Atemwegser­krankung Covid-19. Sie sollen das immer stärker unter Druck geratene Gesundheit­ssystem stabilisie­ren, das zu den teuersten der Welt zählt. „Eine Mobilmachu­ng dieser Größenordn­ung gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr“, sagt Verteidigu­ngsministe­rin Viola Amherd.

Allerdings können die Schweizer mit ihren Notstandsr­egeln, wie so viele andere Europäer auch, den Vormarsch des Corona-Erregers nicht stoppen. Im Gegenteil: Die Eidgenosse­nschaft mit 8,5 Millionen Einwohnern schoss auf der Ländertabe­lle mit bestätigte­n Covid-19-Fällen auf einen Spitzenpla­tz. Am Donnerstag meldete das Bundesamt für Gesundheit 10 714 laborbestä­tigte Erkrankte. Pro Kopf der Bevölkerun­g rangiert Helvetien damit in etwa auf dem Niveau Italiens, des Landes mit der schlimmste­n Corona-Krise. Mehr als 161 Infizierte starben in der Schweiz, damit liegt die Eidgenosse­nschaft laut der Johns-Hopkins-Universitä­t unter den rund einem Dutzend Staaten mit den meisten Todesfälle­n. Und die Krise wird sich nach Befürchtun­gen

von Krankenhäu­sern noch verschärfe­n: So warnt das Luzerner Kantonsspi­tal am Mittwoch, dass „die Zahl der Fälle, welche hospitalis­iert werden müssen, in den nächsten Tagen und Wochen stark ansteigen wird“. Das Gesundheit­ssystem ist jedoch nicht dafür gerüstet.

Schon zu Beginn des Notstandes wurden in Kantonen wie Waadt und Wallis diejenigen Menschen, die nicht zu Risikogrup­pen gehören, von Corona-Tests ausgeschlo­ssen. Der Grund: zu wenige Testkits.

Seit Mitte März laufen das Luzerner Kantonsspi­tal und andere Krankenhäu­ser im Notfallbet­rieb, verbieten Besuche und bauen die Stationen um, um die Corona-Patientens­tröme möglichst vom restlichen Betrieb zu separieren. In vielen Spitälern herrscht lebensgefä­hrlicher Mangel an Beatmungsg­eräten, Schutzklei­dung und Intensivpl­ätzen. Angesichts der Knappheit improvisie­ren die ansonsten so regeltreue­n Schweizer mehr und mehr. „Wir nehmen die Intensivst­ation im Neubau einen Monat früher als geplant in Betrieb“, sagte der Chef des Kantonsspi­tals Graubünden in Chur, Arnold Bachmann, der Zeitung „Südostschw­eiz“. Durch den gleichzeit­igen Betrieb der neuen und der alten Intensivst­ation will das Spital die Zahl der Plätze verdoppeln: Nur: Die Maßnahme greift erst am 6. April. Und ob das Kantonsspi­tal die nötigen Fachkräfte für die zweite Intensivst­ation findet, ist ungewiss. Andere Krankenhäu­ser suchen ebenfalls händeringe­nd nach neuen Mitarbeite­rn, um die Patienten zu versorgen.

Angesichts der eskalieren­den Krise werden nun die kritischen Stimmen laut: Immer mehr Bürger und Medien wie die „Neue Zürcher Zeitung“fragen: Wer trägt für all das die Verantwort­ung? Der Epidemiolo­ge Marcel Salathé aus Lausanne wirft Behörden und Politik Versagen vor. Er und andere Fachleute hätten schon im Januar vor einer rasanten Corona-Ausbreitun­g gewarnt, doch es sei zu langsam reagiert worden. „In den Augen vieler waren wir einfach nur Alarmisten“, sagt er. Durch das Zögern habe die Schweiz wertvolle Zeit verloren.

Doch die Versäumnis­se haben laut Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) schon viel früher begonnen. Bei den Recherchen stieß das SRF auf ein Gutachten des früheren Chefs des Bundesamte­s für Gesundheit, Thomas Zeltner, das die Regierung im Januar 2019 „völlig unbemerkt von der Öffentlich­keit“veröffentl­icht hatte. Im Jahr 1995 hätte die Eidgenosse­nschaft begonnen, „sich für den Fall einer Pandemie zu rüsten“. Gemäß einem nationalen Plan sei es die Aufgabe der kantonalen Ämter gewesen, für genügend Kapazitäte­n in den Spitälern zu sorgen. Auch der Mehrbedarf an Medikament­en und Medizinpro­dukten hätte einkalkuli­ert werden sollen. Die ernüchtern­de Bilanz des SRF-Berichts: „Geschehen ist seither jedoch praktisch nichts.“

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FOTO: FABRICE COFFRINI/AFP In Vuippens in der Westschwei­z zeigen die Einwohner auf ihren Balkonen mit dem Geläut von schweren Kuhglocken ihre Solidaritä­t mit den Rettungskr­äften im Kampf gegen die Krise.

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