Aalener Nachrichten

„Es wird zu einem Massenster­ben kommen“

Welthunger­hilfe-Experte Dirk Hegmanns befürchtet durch die Coronaviru­s-Ausbreitun­g eine Tragödie in Syrien

-

- Es gibt im Nordwesten Syriens kaum noch Krankenhäu­ser, die Menschen dort sind geschwächt – ihnen steht im Falle eines Corona-Ausbruchs eine Katastroph­e bevor. Das sagt Dirk Hegmanns, Regionaldi­rektor der Welthunger­hilfe für Syrien und die Türkei, im Gespräch mit Daniel Hadrys.

Herr Hegmanns, laut syrischen Behörden gibt es einen einzigen Corona-Fall in dem Land. Für wie realistisc­h halten Sie das?

Auf die Informatio­nspolitik des syrischen Regimes kann man sich natürlich nicht verlassen. Wir haben von inzwischen fünf Fällen gehört. Auch Experten aus dem syrischen Gesundheit­ssystem gehen davon aus, dass das Coronaviru­s bereits weit verbreitet ist in Syrien. Es gibt immer noch einen großen Austausch von Menschen aus Iran nach Syrien. Es unterstütz­t Syrien im Kampf gegen die Rebellen, und dort gibt es sehr viele Fälle. Viele Schmuggler aus dem Libanon, dem Irak und den anderen Nachbarlän­dern bringen außerdem Waren nach Syrien. Auch da gibt es Berührungs­punkte zur Bevölkerun­g. Syrien ist also nicht abgeschott­et.

Die Region um Idlib im Nordwesten gilt als letzte Rebellenho­chburg Syriens. Regierungs­truppen fliegen dort mit den russischen Verbündete­n Luftangrif­fe auch auf zivile Ziele wie Krankenhäu­ser. Ist die medizinisc­he Infrastruk­tur auf einen Corona-Ausbruch vorbereite­t? Nein, überhaupt nicht. Im Nordwesten, wo sich eine Million Flüchtling­e ballen, ist das Gesundheit­ssystem so gut wie ausgeschal­tet. Die russischen und syrischen Bomber haben seit Beginn des Krieges systematis­ch Hospitäler bombardier­t. Soweit wir wissen, gibt es in ganz Nordwest-Syrien noch drei Krankenhäu­ser mit Intensivst­ationen. Die Zahl der Betten dort ist auch sehr begrenzt, es soll zudem nur noch etwa 50 Beatmungsg­eräte geben – was bei einem Ausbruch natürlich nicht ausreichen würde. Die Weltgesund­heitsorgan­isation hat 300 Diagnose-Kits nach Idlib-Stadt geliefert und will noch weitere 2000 liefern. Angesicht der Bevölkerun­gszahl ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Viele Menschen leben im Norden Syriens dicht gedrängt in Flüchtling­scamps. Können sie Schutzmaßn­ahmen gegen eine Ausbreitun­g des Coronaviru­s umsetzen?

Die Umsetzung ist schwierig. Im ganzen Land mangelt es an Hygiene- und Desinfekti­onsmitteln, im Nordwesten ist es durch die zerstörte medizinisc­he Infrastruk­tur noch schlimmer. Andere Staaten haben Syrien durch ihren Boykott diese Mittel auch nicht geliefert. Wir und unsere Partner leisten daher Aufklärung­sarbeit und verteilen Hygienekit­s. Wir haben die Mitarbeite­r geschult, wie man sich in solchen Krisensitu­ationen verhält: Handschuhe und Mundschutz tragen und so weiter. Das Personal ist weitgehend geschützt. Allerdings ist es bei einer Million Flüchtling­en und den begrenzten Mitteln nicht möglich, alle zu versorgen.

Hat Syriens Präsident Baschar alAssad überhaupt ein Interesse an einer medizinisc­hen Versorgung der Menschen im Nordwesten? Nein, natürlich nicht. Soweit wir wissen, ergreift das syrische Regime vor allem in eher regierungs­freundlich­en Gebieten Maßnahmen. Das sind die Gebiete um Damaskus und Homs. Die Regierung vernachläs­sigt aber Gebiete wie den Nordwesten, in denen die Bevölkerun­g ihr nicht so wohlgesonn­en ist. Das ist ein zynisches, brutales Verhalten.

Was befürchten Sie für Syrien?

Wir und auch die meisten Gesundheit­sexperten halten einen CoronaAusb­ruch für kaum vermeidbar. Da die Abwehrkräf­te der Flüchtling­e aufgrund der angespannt­en Situation ohnehin sehr schwach sind, sind sie umso anfälliger für das Virus. Bei einem Ausbruch muss man sich also auf eine große Katastroph­e vorbereite­n. Es ist nicht übertriebe­n zu sagen: Es wird zu einem Massenster­ben kommen.

Im Nordosten Syriens sollen türkische Verbündete einer Dschihadis­tenmiliz das wichtigste Wasserwerk für die Versorgung der kurdischen Gebiete abgestellt haben. Wie ist dort die Lage derzeit?

Die Türkei hat dort eine sogenannte Sicherheit­szone geschaffen, damit die Kurden nicht die Grenze kontrollie­ren. Im Moment ist die Situation allerdings relativ ruhig. Es gibt dort unseres Wissens nach 16 Krankenhäu­ser, wobei nur eines voll funktionsf­ähig ist. Auch die Intensivbe­tten sind limitiert und es fehlt an allem. Dennoch ist der Nordosten im Vergleich zum Nordwesten noch ein kleines bisschen besser aufgestell­t.

UN-Generalsek­retär António Guterres hat zu einem weltweiten Waffenstil­lstand aufgerufen. Beherzigen die Kriegspart­eien in Syrien diesen Appell?

So zynisch es klingt: Ein Vorteil der Corona-Krise ist, dass die Kämpfe zwischen Rebellen und dem syrischen Regime im Moment weitgehend eingestell­t wurden. Das verschafft humanitäre­n Organisati­onen wie der Welthunger­hilfe ein wenig Luft, um sich besser auf die Notwendigk­eiten vorzuberei­ten und auf die Zustände zu reagieren.

Was kann die Staatengem­einschaft tun – die derzeit auch sehr mit der Corona-Krise beschäftig­t ist?

Sie darf nicht damit aufhören, von den Kriegspart­eien ein Ende der Kampfhandl­ungen zu fordern. Russland ist da der erste Adressat. Deutschlan­d und Europa müssen direkt einwirken, um eine dauerhafte Waffenruhe zu schaffen.

 ?? FOTO: AAREF WATAD/AFP ??
FOTO: AAREF WATAD/AFP
 ?? FOTO: WELTHUNGER­HILFE/OH ??
FOTO: WELTHUNGER­HILFE/OH

Newspapers in German

Newspapers from Germany