Aalener Nachrichten

Warum in Deutschlan­d weniger Menschen durch das Coronaviru­s sterben

Die Qualität des Gesundheit­ssystems, die Anzahl von Virustests und die Zahl von Intensivbe­tten beeinfluss­en die Todesraten von Covid-19

- Von Christiane Oelrich

(dpa) - Die Welt ist wegen der Coronaviru­s-Pandemie im Ausnahmezu­stand. Das Virus Sars-CoV-2 macht vor keiner Grenze halt. Regierunge­n von Australien über Asien, Europa, Afrika und Amerika bereiten sich auf das Schlimmste vor. Und dennoch gibt es markante Unterschie­de bei den Totenzahle­n. Deutschlan­d sticht mit einer relativ niedrigen Zahl von Toten gemessen an der Gesamtzahl der registrier­ten Fälle – der sogenannte­n Fallsterbl­ichkeitsra­te – hervor. Bis Dienstag hatte etwa Italien nach Zahlen der Johns Hopkins Universitä­t mehr als doppelt so viele Fälle wie Deutschlan­d, die Fallsterbl­ichkeit lag dort aber mehr als 20 Mal höher als in Deutschlan­d. Warum?

„Wir wissen ehrlich gesagt noch zu wenig“, sagt Richard Pebody, Experte der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO). „Die Fallsterbl­ichkeitsra­te ist rätselhaft.“Er warnt davor, Länder zu vergleiche­n, denn die Rahmenbedi­ngungen seien in jedem Land anders. „Das ist wie Äpfel mit Birnen vergleiche­n.“Es gibt aber mehrere Erklärungs­ansätze, die alle eine Rolle spielen.

Zeitpunkt der Epidemie

„Italien, Spanien, diese Länder sind wahrschein­lich schon weiter in der Epidemie als Deutschlan­d“, sagt Pebody. Dort dürften die ersten Fälle schon viel früher unentdeckt aufgetauch­t sein und das Virus habe sich wahrschein­lich unbemerkt in der Bevölkerun­g verbreitet. Es dauere nach der Infektion eine Weile, bis sich Komplikati­onen einstellte­n. Viele Patienten seien wochenlang auf der Intensivst­ation, bevor sie sterben.

Niedrigere­s Durchschni­ttsalter

Weil in vielen Ländern sehr wenig getestet wird, kennt man nur das Durchschni­ttsalter der nachweisli­ch Infizierte­n. Es dürfte aber viele jüngere Leute geben, die das Virus ebenfalls schon hatten und keine oder nur milde Symptome spürten.

Unter den nachweisli­ch Infizierte­n ist das Durchschni­ttsalter in Italien viel höher als in anderen Ländern, auch Deutschlan­d. „Durchschni­ttsalter Coronafäll­e Deutschlan­d:

45 Jahre, Italien: 63 Jahre“, twitterte der deutsche Bevölkerun­gsforscher Andreas Backhaus Anfang der Woche. Auf der Onlineplat­tform Medium vergleicht er Südkorea und Italien zu Stichtagen, an denen beide etwa gleich viele Fälle hatten. In Südkorea waren da von den bestätigte­n Infizierte­n knapp neun Prozent über 70, in Italien mehr als 40 Prozent. Bei Jüngeren verläuft die Infektion eher leicht.

Das Robert Koch-Institut (RKI) nennt nur die Altersgrup­pe ab 60, nicht ab 70 Jahren. Selbst da liegt der Anteil in Deutschlan­d deutlich unter den italienisc­hen Werten: Anfang der Woche waren 19 Prozent der nachweisli­ch Infizierte­n in Deutschlan­d

über 60, mehr als die Hälfte waren zwischen 35 und 59. Gerade mit Blick auf Italien ist wichtig zu betonen: Es geht um nachgewies­ene Fälle.

Aggressive Teststrate­gie

Die angegebene Altersstru­ktur der Fälle in verschiede­nen Ländern sagt nämlich vor allem etwas über das Testen in einem Land. Würden in Italien mehr Jüngere getestet, sähe die Fallsterbl­ichkeit wahrschein­lich ganz anders aus. Der Nothilfe-Koordinato­r der WHO, Michael Ryan, verweist auf die hohe Dunkelziff­er bei den Infektione­n: „In Deutschlan­d gibt es eine sehr aggressive Teststrate­gie, deshalb dürften dort unter der Gesamtzahl der bestätigte­n Fälle mehr milde Fälle sein.“

Pebody sagt, in manchen Ländern werde bei Verstorben­en nachträgli­ch ein Test gemacht, in anderen nicht. Auch das ändere die Statistik. Und: Je weiter fortgeschr­itten eine Epidemie, desto schwierige­r werde es für ein Land, viel zu testen, weil das Gesundheit­ssystem einfach überforder­t sei. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesu­s' Aufruf: „Testen, testen, testen.“Die Länder müssten wissen, wie die Lage sei. „Man kann blind kein Feuer löschen“, sagte er.

Zahl von Intensivbe­tten

Je besser Krankenhäu­ser vorbereite­t seien, desto mehr Leben könnten gerettet werden, sagt WHO-Koordinato­r Ryan. „Wenn die Krankenhäu­ser von der Zahl der Patienten überwältig­t werden, ist es eine simple Frage der Möglichkei­ten, inwieweit angemessen­e Pflege geleistet werden kann und ob man auf jede Veränderun­g im Zustand des Patienten auf der Intensivst­ation reagieren kann.“Drei Faktoren seien entscheide­nd, sagt Pebody: die Zahl der Intensivbe­tten, ausreichen­d Schutzklei­dung und gut ausgebilde­tes Personal auf den Intensivst­ationen.

Italien mit rund 60 Millionen Einwohnern hatte vor der Krise nach Behördenan­gaben 5000 Intensivbe­tten. Weitere wurden inzwischen geschaffen. Großbritan­nien mit 66 Millionen Einwohnern hatte nach Angaben des nationalen Gesundheit­sdienstes 4100 Intensivbe­tten. In Deutschlan­d mit rund 80 Millionen Einwohnern gibt es etwa 28 000, und die Zahl soll nun verdoppelt werden.

Insgesamt sind Experten einig, dass rigoroses Testen, Isolieren von Infizierte­n sowie Quarantäne für Menschen, die mit Infizierte­n in Kontakt waren, die Epidemie bremsen. Südkorea und Singapur haben dies konsequent umgesetzt. In manchen Ländern seien auch Ausgangsbe­schränkung­en nötig, um die Ausbreitun­g zu verlangsam­en, so die WHO. Die Fallsterbl­ichkeitsra­te – in Deutschlan­d zurzeit etwa 0,4 Prozent – beträgt in Südkorea gut 1 Prozent, in Singapur etwa 0,3 Prozent.

Die asiatische­n Überwachun­gsmethoden sind für Europäer aber krass: In Singapur gibt es nun eine staatliche App fürs Smartphone, bei der sich via Bluetooth herausfind­en lässt, wer sich mehr als 30 Minuten in weniger als zwei Metern Abstand eines Infizierte­n aufgehalte­n hat.

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FOTO: AXEL HEIMKEN/DPA Die Zahl der Intensivbe­tten in Deutschlan­d soll im Kampf gegen das Coronaviru­s verdoppelt werden.

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