Der Übungsbarren im Garten hat vorerst Ruhe
Turner Marcel Nguyen, im Herbst an der Schulter operiert, nimmt der Aufschub der Tokio-Spiele um ein Jahr Zeitdruck und Stress
(dpa) - Langsam hebt Marcel Nguyen seinen Körper aus dem Grätschwinkelstütz in den Handstand. Während die Ruderer daheim ihre Ergometer beackern, freut sich der deutsche Spitzenturner über seinen kleinen Übungsbarren im eigenen Garten. Not macht in CoronaZeiten erfinderisch. Eigentlich wollte eine Turngerätefirma dem 32-Jährigen aus Stuttgart einen richtigen Wettkampfbarren ins Haus liefern. 9000 Euro inklusive Matten sollte der Service kosten, überstieg aber die finanziellen Möglichkeiten des Olympiakandidaten.
Gleichwohl blickt der zweifache Silbermedaillengewinner von London 2012 wieder zuversichtlicher in die Zukunft. Die Verschiebung der Olympischen Spiele ins Jahr 2021 findet Marcel Nguyen richtig. „Ich bin sehr froh, dass die Entscheidung nun gefallen ist“, sagt er. Weltweit sei den Athleten „der Druck genommen“, sich inmitten der Pandemie auf ihren Saison-, ja Karrierehöhepunkt unter teils absurden Trainingsbedingungen vorbereiten zu müssen, argumentiert der dreimalige Europameister. Ihm selbst kommt der Olympia-Aufschub auch noch aus anderem Grund sehr gelegen: „Für mich persönlich ist er sicher kein Nachteil. Ich habe wertvolle Zeit geschenkt bekommen.“
Kurz vor der Weltmeisterschaft 2019 in seiner Wahlheimat Stuttgart hatte sich Marcel Nguyen schwer an der Schulter verletzt. Während die
Riege um seinen Kumpel Andreas Toba bei der WM um die Olympiaqualifikation kämpfte, ließ er sich Anfang Oktober operieren. Um mit Blick auf seine vierte Olympiateilnahme vom 24. Juli bis 9. August keine Sekunde zu verlieren. Gleichwohl war das Vorhaben auf Kante genäht. Wäre es beim ursprünglichen Tokio-Termin geblieben, wäre dem Turn-Ass wegen der Corona-Pandemie wohl die Zeit endgültig davongelaufen. „Für mich zählte jeder Tag.“
Nicht zuletzt deshalb atmete Marcel Nguyen auf, als die Nachricht von der Verlegung kam. „Das IOC hat lange benötigt. Es war ja leider schon länger absehbar, dass die Spiele in diesem Sommer mit Blick auf die Gesundheit aller Beteiligten keinen Sinn machen.“Nach dem Eingriff an der Schulter bei dem Spezialisten, der auch Fabian Hambüchen einst operiert hatte, stand für Nguyen zunächst eine achtwöchige Reha an. Mut machte ihm sein langjähriger Weggefährte, der vor Rio 2016 eine ähnliche Verletzung erlitten hatte – und dann ReckOlympiasieger wurde. „Es wird eine Punktlandung, aber Marcel schafft das“, so Hambüchen.
Vor knapp drei Wochen begann Nguyen wieder mit dem Gerätetraining, war „sehr gut im Plan“, bis vor zehn Tagen das Turnforum am Stützpunkt in Stuttgart, seine Trainingshalle, auf Behördenanordnung geschlossen wurde. Da befiel ihn mit Blick auf Olympia leichte Panik. „Wie soll ich das schaffen?“, fragte er sich. Turnen sei „da extrem. Wir brauchen den Barren, das Reck. Ein, zwei Wochen geht es ohne Geräte. Danach benötigt man Monate, um den Trainingsausfall zu kompensieren. Das ist, als müsse ein Schwimmer ohne Wasser üben.“
Nun ist Marcel Nguyens Olympiatraum wieder realistischer. Insofern zählt er zu den wenigen Gewinnern des Aufschubs. Nächstes Jahr wird er 34. „Für einen Turner bin ich im fortgeschrittenen Alter, und es werden wohl meine letzten Spiele. Aber auf dieses eine Jahr kommt es nun auch nicht mehr an. Das werde ich schaffen, wenn mein Körper mitmacht und ich mich für das Team qualifiziere“, betont Nguyen. Die finanziellen Folgen von Corona spürt er ungeachtet solcher Perspektiven. „Ein wichtiger Sponsor kann den Vertrag nicht verlängern, er hat kein Budget mehr.“
Dennoch verfolgt der Sportsoldat positiv sein Ziel: „Ich kann mich jetzt in Ruhe auf Olympia vorbereiten, ohne diesen Stress, mich auf Biegen und Brechen auf mein altes Niveau bringen zu müssen.“Lachend fügt Marcel Nguyen an: „Und das Training im Garten ist erst mal vorbei.“