Aalener Nachrichten

Bleibt es weiterhin so leer?

Die Menschen halten sich an Ausgangsbe­schränkung­en und vermeiden Sozialkont­akte – Die Stimmung könnte aber bald kippen, warnen Fachleute

- Von Dirk Grupe

Während am Stuttgarte­r Killesberg Magnolien und Kirschen vor leeren Bänken blühen, wird im politische­n Berlin darüber diskutiert, wie lange das Kontaktver­bot noch gelten soll. Gesundheit­sminister Jens Spahn jedenfalls warnte am Donnerstag vor allzu schnellen Lockerunge­n. „Noch ist das die Ruhe vor dem Sturm“, sagte der CDU-Politiker am Donnerstag in Berlin. Es sei weiterhin nötig, die Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu verlangsam­en. Psychologe­n fürchten, dass das kommende, wohl sonnige Frühlingsw­ochenende für viele eine harte Probe werden könnte.

- Schon kurz nach Dienstbegi­nn erhält Harald Wanner, Leiter des Polizeirev­iers im oberschwäb­ischen Weingarten, einen Funkspruch: An der Veitsburg in Ravensburg, so meldet eine Anruferin, soll sich angeblich eine Gruppe von rund 20 Leuten treffen, lautstark, womöglich feuchtfröh­lich. Trotz Ausgangsbe­schränkung, trotz drohender Strafen. Als Wanner und seine beiden Kollegen eintreffen, liegt der Serpentine­nweg zur Veitsburg in strahlends­tem Sonnensche­in, doch ansonsten: nichts. Oder so gut wie nichts. Ein Spaziergän­ger bleibt stehen, zieht an seiner Zigarette und fragt: „Ist das mit dem Virus wirklich so schlimm, wie gesagt wird?“„Lesen Sie bitte Zeitung“, rät der Polizist und stoppt eine Joggerin. „Der Weg hier ist eigentlich gesperrt.“Die Frau bedankt sich für den Hinweis und trabt weiter. „Die Situation ist surreal“, sagt Wanner und blickt hinauf zu dem fast menschenle­eren Hang. Der in normalen Zeiten zu den beliebtest­en Treffpunkt­en der Stadt zählt.

Normal ist in diesen Tagen aber kaum etwas, im Gegenteil. Der Mensch hat sich herunterge­fahren, sein System neu konfigurie­rt, Gewohnheit­en und Geselligke­iten auf ein Minimum reduziert. Das fiel anfangs schwer und ging dann doch erstaunlic­h schnell. Noch Samstag vor einer Woche waren Märkte, Fußgängerz­onen und Cafés gut gefüllt, obwohl die Menschen um die Ausbreitun­g des Coronaviru­s schon wussten. Am Wochenende danach gab es schon keine Märkte mehr und die Gaststätte­n waren verschloss­en. Als schließlic­h Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) verschärft­e Beschränku­ngen bei Ausgang und Sozialkont­akten verkündete­n, lag danach das öffentlich­e Leben weitestgeh­end brach.

Wie sehr die Menschen ihr Leben eingeschrä­nkt haben, bestätigt das Schweizer Big-Data-Unternehme­n Teralytics, das anhand von 30 Millionen anonymisie­rten Handy-Daten durchschni­ttlich 43 Prozent weniger Bewegungen in Deutschlan­d innerhalb einer Woche ermittelt hat. Und von Dienstag vergangene­r Woche zu diesem Dienstag gingen die Bewegungen noch mal im Schnitt um 25 Prozent runter, im Kreis Ravensburg waren es 23 Prozent, in Ulm 27, im Bodenseekr­eis 23, im Ostalbkrei­s 20 und im Kreis Sigmaringe­n 22 Prozent.

Auf den sonst so belebten Straßen und Plätzen herrscht Ödnis. Manche mögen sich an die autofreien Sonntage während der Ölkrise in den 1970er-Jahren erinnern. Doch jetzt ist jeder Tag ein Sonntag. Das Besinnlich­e allerdings fehlt.

„Es ist gespenstis­ch“, sagt Revierleit­er Harald Wanner. Auf seiner roten Weste steht „Anti-KonfliktTe­am“, doch auf Streit und Widerspruc­h trifft er nur selten. In der Ravensburg­er Weststadt sitzen an diesem Tag zwei junge Männer auf der Bank eines Spielplatz­es und stecken die Köpfe zusammen. Als sie den Streifenwa­gen sehen, stehen sie auf und suchen das Weite. „Wir können vieles im Keim ersticken“, sagt Wanner. So auch am Abend in einer Tiefgarage in Weingarten, da werden zwei Männer zum Gehen aufgeforde­rt, bevor sich das anbahnende Gelage bilden kann. „Die Jugend drängt nach draußen“, sagt der Beamte. Noch am vergangene­n Wochenende hatte die Polizei immer wieder Gruppen auflösen müssen, mal kleinere, mal größere, mal mit kleineren Konsequenz­en, mal mit größeren. Bei Zusammenkü­nften von bis zu 14 Leuten im öffentlich­en Raum spricht die Polizei von einer Ordnungswi­drigkeit, bei 15 und mehr ist es eine Straftat. Anwendung finden die Vorgaben wenig, nur 346 Verstöße gegen das Bundes infektions­schutzgese­tz wurden an diesem Montag registrier­t – in ganz Baden-Württember­g.

„Die Menschen im Land zeigen überwiegen­d Verständni­s für die notwendige­n Maßnahmen, die wir getroffen haben“, sagte Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU). Sogenannte Corona-Partys spielten keine Rolle mehr. Ähnliches vermeldet auf Anfrage das Gesundheit­sministeri­um, Verstöße gegen die Quarantäne seien die Ausnahme. Und doch stellt sich die Frage: Gärt da womöglich etwas unter der Oberfläche? Sind die Leute wirklich so einsichtig? So verantwort­ungsvoll und solidarisc­h? Das sind sie wohl, aber nicht nur und vor allem nicht alle, meint Johannes Keller, Professor für Sozialpsyc­hologie an der Universitä­t Ulm, der vor schwerwieg­enden Konsequenz­en warnt.

„In der Forschung ist gut belegt, dass die Einführung einer Bestrafung­smöglichke­it gegenüber Trittbrett­fahrern die Kooperatio­nsbereitsc­haft substanzie­ll erhöht“, sagt Keller der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die von Polizei und Behörden in den Straßen sanktionie­rten Verletzung­en der Ausgangsbe­schränkung­en spiegelten dies im Alltag wider. „Insofern ist es aus sozialpsyc­hologische­r Sicht nicht überrasche­nd, dass die Menschen inzwischen die Ausgangsbe­schränkung­en – mit nur noch sehr wenigen Ausnahmen – befolgen.“Anders gesagt: Strafen und ihre Androhung zeigen Wirkung. Aber wie lange noch? Sieht der Sozialpsyc­hologe doch für alle Menschen eine enorme Belastung durch den radikalen Spurwechse­l in ihrem Leben.

Durch diesen Bruch wird laut Keller die Befriedigu­ng der Grundbedür­fnisse des Menschen angegriffe­n: jenes nach sozialer Einbindung, nach Kompetenz und Autonomie sowie das Bedürfnis nach Selbstbest­ätigung. „Die besondere Herausford­erung für die Menschen besteht darin, dass es zu einem gleichzeit­igen Mangel in der Befriedigu­ng der drei Grundbedür­fnisse kommt.“Eine Kompensati­on des einen Verlustes durch verstärkte­s Bedienen eines anderen Bedürfniss­es könne daher kaum stattfinde­n. Das frustriert. Und hat Folgen. „Die Menschen fühlen sich schlecht“, sagt Keller. Darin sieht er ein großes Gefahrenpo­tenzial: „Menschen zeigen eine gesteigert­e Aggression­stendenz, wenn sie sich schlecht fühlen“, ganz egal, durch welchen gravierend­en Mangel ausgelöst. Ein Grundsatz aus der Aggression­sforschung laute daher: „We’re nasty when we feel bad.” – „Wir sind böse, wenn wir uns schlecht fühlen.“Droht also die Stimmung im Land zu kippen?

„Wir haben es momentan mit tatsächlic­h sehr scharfen Bedingunge­n zu tun“, sagt der Sozialpsyc­hologe. „Weshalb ich prognostiz­iere, dass die Stimmung spätestens dann kippen wird, wenn die Temperatur­en ansteigen und es auch noch die Hitze auszuhalte­n gilt.“Dabei sei zu befürchten, dass es zu einer lawinenart­igen Entwicklun­g kommt, angefangen von einigen Verstößen bis hin zu einem raschen und kompletten Zusammenbr­uch der Ausgangsbe­schränkung­en. Wo jetzt noch Leere und Stille herrscht, wäre es wieder voll und laut. „Um dies zu verhindern, müssten dann massive Gegenmaßna­hmen umgesetzt werden, von denen wir uns nicht wünschen können, dass sie jemals in Aktion treten.“

Davon kann momentan noch keine Rede sein, Befürchtun­gen hat aber auch Polizeiprä­sident Uwe Stürmer, zuständig für die Landkreise Ravensburg, Biberach und Sigmaringe­n. „Mit Sorge schaue ich auf den Wetterberi­cht zum Wochenende.“Hitze ist noch lange nicht in Sicht, die Temperatur­en sollen zunächst aber deutlich ansteigen. „Viele wollen auf die Straße, die Menschen zieht es nach draußen“, sagt Stürmer, der mahnt: „Wir wissen, dass die Lage ernst ist.“Wer sich nicht an die Beschränku­ngen halte, handele unsolidari­sch und asozial, auf Kosten der Gesundheit vieler Menschen. Daher, so der Polizeiprä­sident, gelte das Gebot der Stunde: „Abstand, Abstand, Abstand.“Egal bei welchem Wetter.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Um die Ausbreitun­g des Coronaviru­s einzudämme­n, ist zum Teil auch der Aufenthalt in Parks eingeschrä­nkt. Die Polizei im Land registrier­t deshalb derzeit auch Verstöße gegen das Infektions­schutzgese­tz.
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