„Es können nicht genug verrecken“
Das Ellwanger Friedensforum erinnert an die grausamen Ereignisse vor 75 Jahren
- Braucht es Erinnerungskultur und Friedenspädagogik in Zeiten der Corona-Pandemie? Das Ellwanger Friedensforum meint „Ja“und verweist auf Bundeskanzlerin Angela Merkel, die von der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg gesprochen hat.
Angesichts des derzeitigen Versammlungsverbots werden Josef Baumann, Peter Maile und Volker Lauster-Schulz vom Friedensforum deshalb an diesem Dienstag mit einer nichtöffentlichen Mahnwache im Hof des Josefinums der ComboniMissionare der 75. Wiederkehr des Hessentaler Todesmarsches gedenken. Der führte kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges durch Ellwangen und andere Virngrundgemeinden. Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Militarismus seien die aktuellen Herausforderungen, so die Mitarbeiter des Friedensforums.
Am 27. Januar jährte sich zum 75. Mal der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Als nationaler Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist er in diesem Jahr in Ellwangen in der Eugen-Bolz-Realschule begangen worden. Allein sechs Millionen Juden haben die Nazis in den Vernichtungslagern Auschwitz-Birkenau, Treblinka, Sobibor, Majdanek, Chelmo und Belzec systematisch ermordet.
Andere Konzentrationslager gab es zuhauf. Denn verfolgt und ermordet wurden außer Juden unter anderem auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Kommunisten und Kriminelle. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erging ein Befehl des Reichsführers SS Heinrich Himmler, alle Häftlinge der Konzentrationslager und ihrer Außenlager bei Feindanrückung in rückwärtige Konzentrationslager zu evakuieren. Darunter fiel das Lager Schwäbisch HallHessental, das am 5. April 1945 evakuiert wurde.
Von der Brutalität der den Hessentaler Todesmarsch begleitenden SS-Wachmannschaft berichtet das Friedensforum Ellwangen unter dem Titel „Der Hessentaler Todesmarsch“in seiner 1987 erschienenen Dokumentation „Vernichtung und Gewalt – Die KZ-Außenlager Ellwangens“. Unmenschliche Szenen spielten sich ab. Rund 170 Tote sollen es auf der Strecke gewesen sein.
Dass es in Ellwangen und den Nachbargemeinden möglich war, auf offener Straße wehrlose Menschen zu erschlagen und keiner eingriff, dass offene Lastwagen mit Leichen beladen durch die Stadt fuhren, vor Wirtshäusern standen, und keiner Fragen stellte, dass die Zerschundenen, Erschlagenen und Erschossenen die Straßen säumten und Bauern zum Aufsammeln der Toten verpflichtet wurden, ohne dass es dagegen Einwände gegeben hätte: Das will das Friedensforum auch 75 Jahre nach Kriegsende nicht vergessen lassen.
„Der Erste, der fiel, war ein Junge aus Radom“, heißt es in der Dokumentation. „Ein barmherziger Bauer hatte ihm ein Stück Brot gegeben. Er biss hinein, aber er hatte keine Kraft mehr abzubeißen. Unser SS-Mann trat ihn. Aber der Junge bewegte sich nicht. Der SS-Mann zielte mit seiner Pistole auf den Jungen. ,Nur einen Moment’, bat der Junge, ,lass mich das Brot zu Ende essen!’.“
„Was für ein Schwein’, sagte der SS-Mann empört. ,Ich möchte ihn erschießen, und alles, an was er denkt, ist, das lausige Stück Brot zu essen!’ Der Gefangene aß sein Stück Brot auf und schaute nicht auf. Er schloss die Augen. Die Pistole schoss. Der SSMann bückte sich, um zu sehen, ob sein Opfer noch am Leben war. Sein Militärmantel öffnete sich ein Stück, und wir sahen, dass er unter seiner Uniform zivile Kleider trug.“
Am 5. April 1945 waren die Insassen des Lagers Schwäbisch Hall-Hessental für den Abtransport ins Konzentrationslager Dachau in einen Güterzug verladen worden. Doch der Zug mit etwa 700 Häftlingen wurde in der Nähe von Sulzdorf von alliierten Jagdbombern beschossen und schwer beschädigt, sodass die Evakuierung in Gruppen zu 500 und 200 Mann zu Fuß fortgesetzt werden musste.
Augenzeugenberichte schildern das Ausmaß an Menschenverachtung der SS-Wachmannschaft. Bereits in Bühlertann schlugen die SSLeute mit armdicken Stöcken und Gewehrkolben rücksichtslos auf die ausgehungerten Häftlinge ein, die sich um von Bauern verteilten Kartoffeln gestritten hatten. Die Misshandlungen kosteten vier Menschen das Leben.
Viele konnten aus Erschöpfung nicht mehr weitermarschieren, sie wurden wie Vieh auf den Wagen eines Fuhrknechts geworfen. Zuvor hatte die SS-Mannschaft versucht, die Gestürzten mit Schlägen zum Aufstehen zu bringen.
Als der Fuhrknecht kurz nach Mitternacht in
Neunheim ankam, hatte er 60 bis 70 Häftlinge kreuz und quer übereinander auf seinem Wagen liegen. Viele davon waren unterwegs gestorben.
In Rosenberg aßen die ausgemergelten Häftlinge sogar verschimmeltes Schweinefutter und gebeizten Saatweizen, den sie in einer Scheune vorfanden. In Eggenrot beobachtete der Landwirt Josef E., wie ein KZ-Häftling und zwei Fremdarbeiter im Wald bei der Glassägmühle, im Schafhölzle, von Wachen erschossen und verscharrt wurden. Die Fremdarbeiter mussten zuvor ihr eigenes Grab schaufeln.
Am Bahnhof von Ellwangen entledigte sich die Wachmannschaft der 50 schwächsten Häftlinge, indem sie sie einfach zurückließ. Völlig ungeschützt gegen den einsetzenden Regen schleppten sich die Häftlinge in leere Eisenbahnwaggons.
Auch hier gab es schreckliche Vorfälle. Anton S. beobachtete, wie ein SS-Mann auf die am Boden liegenden Häftlinge blindlings mit der Pistole schoss. Zwei SS-Leute luden später 20 tote und acht noch lebende Häftlinge auf einen Lkw der Ellwanger Nabenfabrik auf. Als der letzte auf dem Wagen lag, wurde die Ladeklappe geschlossen. Einer der Häftlinge muss sich dabei wohl ein Bein oder einen Arm eingeklemmt haben, denn man hörte einen furchtbaren Schrei.
Der Fahrer, Sebastian J., musste auf Befehl der Ellwanger SS nach Dalkingen fahren. Die Häftlinge wurden anschließend in einer Sandgrube auf Dalkinger Gemarkung verscharrt. Zuvor waren die noch Lebenden durch Schüsse in den Kopf getötet worden. Nach Kriegsende mussten ehemalige Parteigenossen die Leichname exhumieren, die Toten wurden auf dem Dalkinger Friedhof beigesetzt. Die übrigen am Ellwanger Bahnhof zurückgelassenen Häftlinge, 34 an der Zahl, sollen nach Aussagen eines Obersturmführers angeblich ins Gefangenensammellager Wasseralfingen gebracht worden sein.
Auf dem Weg nach Neunheim spielten sich unmenschliche Szenen ab. Etliche tote Häftlinge säumten die Straße. Der erste Teil der Häftlingskolonne wurde über Nacht in einen nassen, schlüpfrigen und kalten Steinbruch eingepfercht. „Die Unterkunft braucht nicht besonders gut sein, es können nicht genug verrecken diese Nacht“, meinte ein SSMann.
In Neunheim gab es insgesamt rund 30 Tote. Häftlinge der zweiten Kolonne waren in einem Schafstall in der Nähe der Schutzengelkapelle eingesperrt. Doch es gibt auch Positives zu berichten. Der Neunstadter Wilhelm N. versteckte zwei polnische Juden, die bei ihm um Brot bettelten, in seinem Taubenschlag und versorgte sie bis zum Eintreffen der Amerikaner.
Auf dem Weg nach Zöbingen wurden mehrere geschwächte Häftlinge durch Schüsse in den Kopf getötet. Bauern mussten die Toten auf ihre Fuhrwerke laden. In Zöbingen wurde auf dem nackten Boden einer Scheune übernachtet. Als einige Häftlinge auf den Heuboden klettern wollten, wurden zwei erschossen. Außerhalb des Ortes wurden 22 Tote begraben.
Auf der Strecke von Zöbingen nach Nördlingen gab es erneut etwa 16 Tote, sie wurden vom Volkssturm im Waldteil Strut verscharrt. „Nachdem die Leichen in das Grab gelegt waren, mussten die noch lebenden sechs KZ-Häftlinge mit den entsprechenden Abständen auf den Leichen in dem Graben stehen, und ein SSMann erschoss dann alle sechs durch Genickschuss mit dem Karabiner“, berichtete einer der Volkssturmleute später als Zeuge. Insgesamt zählte Zöbingen 42 Tote.
Über Kerkingen (vier Tote) und Wallerstein ging es nach Nördlingen. Dort verlieren sich die Spuren. In einem Güterzug wurden die Häftlinge nach München-Karlsfeld gebracht, das letzte Stück ins KZ Dachau mussten sie zu Fuß zurücklegen.