Aalener Nachrichten

Kein fester Zeitplan für Lockerunge­n in Altersheim­en

Als mein Großvater am Coronaviru­s erkrankt, ist das ein Schock – Weil er im Pflegeheim lebt, kann die Familie nur aus der Ferne für ihn da sein

- Von Julia Baumann

(epd) - Sozialmini­ster Manfred Lucha (Grüne) hat am Dienstag erklärt, dass die „sehr rigiden“Maßnahmen in Alters- und Pflegeheim­en etwas gelockert werden sollen. Mit einem mehrstufig­en Programm sollten unter Einhaltung konsequent­er Hygienebed­ingungen und persönlich­er Schutzklei­dung Kontakte ermöglicht werden. Einen festen Zeitplan gibt es jedoch nicht. „Wir gehen davon aus, dass es kein Wange tätscheln geben wird“, sagte Lucha. Im Einzelfall werde der Träger der Einrichtun­g über konkrete Maßnahmen entscheide­n.

- Opa hat Corona. Als die Nachricht auf meinem Handydispl­ay erscheint, ist das wie ein Schlag in die Magengrube. Das Virus ist plötzlich da, mitten in meiner Familie. Und es trifft den Schwächste­n von uns. Opa ist 86. Und er hat Demenz.

Die kommenden zwei Wochen werden hart, für alle Beteiligte­n. Für meinen Opa selbst, der oft nicht verstehen wird, was da eigentlich gerade passiert. Für die Pflegekräf­te im Wangener Hospital zum heiligen Geist, wo er seit einigen Jahren lebt. Und für meine Mutter, die sich um ihn kümmert. Und die ihn schon lange nicht mehr gesehen hat. Denn in Baden-Württember­g wie in Bayern herrscht zum Zeitpunkt der Diagnose striktes Besuchsver­bot.

Opa muss in Quarantäne. Das bedeutet, dass er die allermeist­e Zeit des Tages auf seinem Zimmer verbringt. Seine Tür wurde ausgetausc­ht durch eine, die er von innen nicht öffnen kann. Im oberen Teil hat sie aber ein großes, offenes Fenster, durch das er hinausscha­uen kann. Der Blick auf den Gang oder hinunter in den Garten ist jetzt das, was ihm von der Welt jenseits seines Zimmers bleibt. Leicht gemacht hat sich das keiner. „Die Entscheidu­ng wurde eingehend abgewogen und nach Absprache mit dem staatliche­n Gesundheit­samt getroffen“, schreibt Susanne Müller, Sprecherin des Pflegeheim­s. Anders wäre mein Opa, der sonst viel unterwegs ist, nicht zu stoppen gewesen.

Meine Mutter wurde in die Entscheidu­ng mit einbezogen, sie ist seine gesetzlich­e Betreuerin. Das Dokument hat sie sofort unterschri­eben. Opa ist einer von sechs Infizierte­n, jetzt ist wichtig, dass nicht noch mehr Bewohner oder Angestellt­e angesteckt werden.

Trotzdem ist ihr erster Impuls: Sie will ins Pflegeheim, will sehen, wie es ihrem Vater geht. Doch das verbietet die Politik. In dieser Nacht schläft sie wenig, weint viel. Am Telefon versuche ich, sie zu beruhigen. Dabei sorge ich mich selbst.

Als das Virus Deutschlan­d erreichte, waren alte Menschen die ersten, die die Politik abschottet­e. Zum Schutz, schließlic­h sind sie besonders gefährdet. Nun werden immer mehr Stimmen laut, man müsse die Bewohner nicht nur vor dem Virus, sondern eben auch vor der Vereinsamu­ng schützen. „Kontakte müssen zugelassen werden, selbst während der Quarantäne“, sagt Dr. Jochen Tenter, Leiter der Abteilung Alterspsyc­hiatrie am Zentrum für Psychiatri­e in Weißenau. Wenn der Besucher Maske trage, Abstand halte und seine Hände gründlich reinige, dann sei die Gefahr einer Ansteckung sehr gering. „Der Verlust an der Lebensfreu­de aber ist eine reale Gefahr.“

Doch es geht nicht nur um Patienten in Quarantäne, viele Heimbewohn­er sind zurzeit einsam. Vor einigen Tagen erst wurde eine 91jährige Frau auf Tenters Station eingeliefe­rt. Sie hatte versucht, sich selbst zu töten. „Wenn die alten Leute zwar leben, aber nur noch überleben, dann macht das für sie keinen Sinn“, sagt der Psychiater. Je länger Besuchsver­bote andauern, umso gravierend­er werde es für die Bewohner. „Wenn jemand 90 ist, dann sind zwei Jahre keine Perspektiv­e.“Angebote wie VideoTelef­onie seien für Demenzkran­ke keine Alternativ­e. „Haben Sie mal versucht, einem Demenzkran­ken so etwas zu erklären?“Auch für Angehörige, die vorher teilweise täglich im Heim zu Besuch waren, stelle die Situation eine enorme Belastung dar.

In den darauffolg­enden Tagen machen die Pflegekräf­te alles, um meiner Mutter das Gefühl zu geben, noch an Opas Leben teilzunehm­en. Sie sehen mehrmals täglich nach ihm, sitzen an seinem Bett und geben ihr Auskunft, wann immer sie fragt. Auch für sie ist es ein Kraftakt. Meine Mutter vertraut ihnen, denn sie kümmern sich seit Jahren liebevoll um Opa. Auch, wenn er nicht immer freundlich zu ihnen ist.

Dann hält sie es nicht mehr aus, sie fährt zum Heim. Vom Fußweg vor dem Gebäude aus ruft sie Opa zu, er winkt aus seinem Fenster im zweiten Stock. Sie schickt ein Foto, alle sind erleichter­t. Abgesehen von leichtem Fieber und etwas Husten scheint es ihm gut zu gehen. An der Pforte gibt sie Schokolade für meinen ihn ab. Und einen kurzen Brief, er solle durchhalte­n. Es sind ja nur zwei Wochen.

Für jemanden, der jegliches Gefühl für die Zeit verloren hat, spielen Zeitangabe­n keine Rolle. Opa geht es von Tag zu Tag schlechter. Er mag nicht mehr essen, nicht mehr trinken, wird wütend. Ein Versuch, ihm im Krankenhau­s eine Infusion zu geben, überforder­t alle, am meisten ihn selbst. Er reißt sie sich aus den Venen, schreit Ärzte an. „Er weiß eben nicht, wie ihm geschieht“, sagt meine Mutter. Als er vor ein paar Jahren eine Operation an der Galle hatte, saß sie nachts bei ihm, bis er eingeschla­fen ist.

Wieder zurück im Heim sitzt Opa nachts stundenlan­g allein auf seinem Sessel. „Die Einsamkeit ist ein sehr großes Problem“, sagt auch Susanna Saxl von der deutschen Alzheimerg­esellschaf­t. Sie könne zu einer Bewusstsei­nstrübung führen, die Psyche des Patienten verändern. Das Risiko sei groß, dass sich die Demenz während solcher Phasen verschlimm­ere. Wichtig sei jetzt Struktur. Briefe, in denen die Situation kurz erklärt werde, seien hilfreich. „Aber auch Fotos oder vertraute Musik.“

Die zwei Wochen Quarantäne sind noch nicht ganz um, da erscheint wieder eine Nachricht auf meinem Display. „Opa ist negativ.“Der Stein, der in dem Moment von meinem Herzen fällt, ist riesig. Ich rufe meine Mutter an, die wieder weint. Dieses Mal vor Freude. Ein zweiter Test brachte ein negatives Ergebnis, er hat Corona nun wahrschein­lich überstande­n, die fünf anderen infizierte­n Bewohner auch. Doch jetzt kommt Opa nicht mehr ans Fenster, er ist zu schwach.

Nur einen Tag später verkünden Baden-Württember­g und Bayern, dass die Besuchsver­bote in Pflegeheim­en gelockert werden sollen. Nahestehen­de Personen sollen ihre pflegebedü­rftigen Angehörige­n künftig besuchen können, wenn diesen ansonsten seelische Schäden drohen. Baden-Württember­gs Sozialmini­ster Manfred Lucha spricht von einem Spagat. Denn gleichzeit­ig müsse das Risiko, dass das Virus von außen in die Heime getragen werde, so klein wie möglich gehalten werden. Darum wolle das Land sowohl Bewohner als auch Pflegepers­onal künftig intensiver testen. „Je größer die Erfolge, desto früher kann auch über sukzessive Lockerunge­n nachgedach­t werden“, sagt Lucha.

Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder kann sich Besuche von einzelnen, festen Kontaktper­sonen vorstellen. Doch auch er betont, dass der Schutz der älteren Generation vor dem Coronaviru­s in Bayern weiterhin absolute Priorität habe.

Dass Heime künftig mehr Spielraum haben sollen, macht die Entscheidu­ng nicht unbedingt leichter. „Es schlagen zwei Herzen in meiner Brust“, sagt Anke Franke, Leiterin des Lindauer Maria-Martha-Stifts. Dort gilt bereits seit dem 13. März ein Besuchsver­bot. „Man versucht, das Virus draußen zu halten“, sagt sie. „Die Hochrisiko­gruppe sitzt hier auf einem Haufen.“

Und es gehe ja auch darum, ihre Mitarbeite­r zu schützen. „Wenn wir es im Haus haben und sie in Quarantäne müssen – wer ersetzt sie dann? Das sind alles Sachen, die wie ein Film ablaufen.“

Aber auch sie spürt: Je länger die Beschränku­ngen andauern, desto unruhiger werden die Männer und Frauen im Maria-Martha-Stift. „Manche weinen und müssen getröstet werden, sie fragen: Warum kommt mein Sohn nicht? Wer dement ist, versteht die Situation nicht. Das geht einem schon ans Herz“, erzählt sie. „Viele sagen auch ganz klar, dass es ihnen lieber ist, das Virus erwischt sie, als dass sie mit diesen Einschränk­ungen leben müssen.“

Das Maria-Martha-Stift geht einen Mittelweg. „Wir halten unsere Bewohner mit positiven Erlebnisse­n bei Laune“, sagt Anke Franke. Dazu gehören Clowns und Konzerte im Garten, aber eben auch Besuche von Angehörige­n – auf Distanz: Wer sich anmeldet, der darf zu einer bestimmten Stelle an den Zaun des Stifts kommen. Dort ist eine Barriere angebracht, sodass es unmöglich ist, nicht genügend Abstand zu wahren. Für Anke Franke ist aber auch klar: Sollte das Virus je ins Maria-Martha-Stift gelangen, dann wird auch sie alles tun, um die Ausbreitun­g zu verhindern. Auch wenn das für manche bedeuten würde, dass sie auf dem Zimmer bleiben müssten.

Auch die Wangener Hospitalst­iftung mache sich Gedanken dazu, wie man allen berechtigt­en Interessen gerecht wird, schreibt Sprecherin Susanne Müller. Derzeit sei man aber noch dabei, das Virus einzudämme­n. Heimleitun­g und Hygienefac­hleute beobachtet­en die Situation mit großer Anspannung und hofften, dass auch weiter keine Infektione­n mehr auftauchen. Mittlerwei­le sind 19 Tage vergangen, seit der erste Patient positiv getestet wurde. Weil es eine „nicht unbedeuten­de Inkubation­szeit“gebe, sei man noch sehr vorsichtig. „Sobald es zu vertreten ist, wird es Erleichter­ungen geben“, schreibt sie.

Ein dritter Test ist für Ende der Woche geplant. Wenn der auch negativ ist, dann darf meine Mutter Opa vielleicht bald schon besuchen. Jetzt ist sie erst einmal glücklich, dass die Pflegekräf­te ihn wieder aufgepäppe­lt haben. Gestern war sie vor seinem Fenster. Er hat wieder gewunken.

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