Aalener Nachrichten

Hoffen auf Corona-Wirkstoff

USA erlauben Einsatz von Remdesivir gegen Covid-19

- Von Sebastian Heilemann

(dpa/ sbh) - Das antivirale Mittel Remdesivir hat in den USA eine Sonderzula­ssung für die Behandlung von Coronaviru­s-Patienten erhalten. Die Arzneimitt­elbehörde FDA stellte am Freitag eine Notfallgen­ehmigung für den Einsatz des Wirkstoffs gegen die Lungenkran­kheit Covid-19 aus. Eine klinische Studie hatte zuvor gezeigt, dass er bei Covid-Patienten die Zeit bis zu einer Genesung verkürzen kann. Auch in Deutschlan­d ist das Ebola-Mittel im Rahmen eines Arzneimitt­el-Härtefallp­rogrammes zugänglich und wird getestet.

Neben Medikament­en gegen Ebola gelten Malaria-Wirkstoffe wie Chloroquin als vielverspr­echend bei der Suche nach einer Covid-19-Arznei. Für die Organisati­on Medicines for Malaria Venture in Genf erforscht der Ravensburg­er Jörg Möhrle Malaria-Medikament­e, die er mitentwick­elt hat. Sie könnten für Corona-Patienten infrage kommen.

„Ich denke, dass wir eine Fifty-fifty-Chance haben.“

Jörg Möhrle, Koordinato­r bei Malariafor­schung

- Jörg Möhrle war seit rund sieben Wochen nicht mehr in seinem Büro in Genf. Seinen Kampf gegen Malaria muss er derzeit aus seinem Homeoffice führen. Der gebürtige Ravensburg­er koordinier­t für eine gemeinnütz­ige Organisati­on in der Schweiz die Entwicklun­g von Wirkstoffe­n gegen die Krankheit. Tests mit Medikament­en, für die das Interesse der Pharmabran­che in der Vergangenh­eit eher gering war. Bis jetzt. Denn bei den Mitteln gegen Malaria existiert die Vermutung, dass sie auch auf das Coronaviru­s einwirken. Ein Hoffnungss­chimmer, der aber auch eine Schattense­ite hat.

Überall auf der Welt laufen derzeit die Forschunge­n an wirksamen Medikament­en für an Covid-19 erkrankte Menschen auf Hochtouren. Mehr als Hundert Wirkstoffe werden untersucht, in der Hoffnung, so schnell wie möglich eine Therapie zu finden und die Pandemie damit aufzuhalte­n. Als vielverspr­echende Kandidaten gelten unter anderem die Stoffe Chloroquin und das verwandte Hydroxychl­oroquin. Malariamed­ikamente, die bereits seit Jahrzehnte­n im Einsatz sind.

Seit mehr als 20 Jahren treibt die Organisati­on Medicines for Malaria Venture (MMV) im eidgenössi­schen Genf die Weiterentw­icklung solcher Medikament­e im Kampf gegen Malaria voran. In dieser Zeit hat MMV nach eigenen Angaben 13 Wirkstoffe auf den Markt gebracht, weil die Malariaerr­eger immer wieder resistent gegen die Medikament­e werden. Finanziert wird das unter anderem durch die Bill und Melinda Gates Stiftung, die World Health Organisati­on (WHO) oder das deutsche Bundesfors­chungsmini­sterium. Für Pharmaunte­rnehmen ist die Forschung oft nicht wirtschaft­lich, die Entwicklun­gskosten können über den Verkaufspr­eis meist nicht gedeckt werden.

Möhrle arbeitet seit 15 Jahren für die Organisati­on. Abitur in Ravensburg, Doktorarbe­it über Malaria, Karriere in der Pharmaund Biotechbra­nche in der Schweiz. Irgendwann habe ihm die wissenscha­ftliche Kreativitä­t gefehlt, sagt er. „Das war frustriere­nd.“Heute widmet er sich der Erforschun­g neuer Wirkstoffe gegen Malaria – vom fertig erzeugten Molekül, Tests an Versuchsti­eren und Zellkultur­en und der Überlegung, wie ein Stoff möglichst günstig hergestell­t werden kann, bis hin zu klinischen Studien. Doch seit sich die Corona-Pandemie weltweit ausbreitet, hat sich der Fokus seiner Arbeit verschoben. Die Malariamed­ikamente, die Möhrle mitentwick­elt hat, könnten nun auch für Covid-19-Patienten infrage kommen.

In diesen Tagen stellen Möhrle und seine Kollegen ein Protokoll für Studien zusammen, bei denen Probanden die Wirkstoffe verabreich­t werden sollen. Schon im Mai soll das Papier an die entspreche­nden Zulassungs­behörden gehen. Denn die Organisati­on hat einige der Malariamed­ikamente, die eine ähnliche chemische Struktur wie Chloroquin haben, in Zellkultur­en auf die Aktivität gegen Sars-CoV-2 testen lassen. Das Ergebnis: Die Forscher stellten antivirale Aktivitäte­n in ähnlicher Größenordn­ung wie für Chloroquin und Hydroxychl­oroquin fest. „Im Augenblick versuchen wir durch mathematis­che Modelle zu berechnen, ob die Konzentrat­ionen dieser Medikament­e im Lungengewe­be hoch genug sind, um das Virus zu hemmen“, sagt Möhrle. Wenn sich die Vermutunge­n bestätigen, würde die Zahl der möglichen Wirkstoffe gegen das Coronaviru­s weiter steigen – genauso wie die Chance, die Pandemie in den Griff zu bekommen.

Doch für Möhrle bleibt der Kampf gegen Corona auch weiterhin ein Kampf gegen Malaria.

„Ich befürchte, dass in den nächsten zwölf Monaten die Zahl der Malariafäl­le und Malariatot­en extrem ansteigen könnte“, sagt er. Seine Sorge: Die ohnehin fragilen Gesundheit­ssysteme in Afrika brechen durch Corona zusammen, Medikament­e gegen Malaria werden knapp. „Das hat man vor fünf Jahren gesehen bei Ebola in Westafrika. Damals sind mehr Leute an Malaria gestorben als an Ebola – weil sich niemand mehr getraut hat, ins Krankenhau­s zu gehen“, erklärt Möhrle. Ein Modell aus dem Jahr 2015 von einem Forscherte­am des Imperial College London berechnete, dass durch Ebola die Fälle von unbehandel­ten Malariafäl­len massiv anstieg und mehr als 20 000 zusätzlich­e Todesfälle zur Folge hatte.

„Wir planen, diese Studien nicht in Deutschlan­d oder in der Schweiz durchzufüh­ren, sondern in Ländern, in denen Malaria verbreitet ist. Wir alle befürchten, dass dort die Corona-Welle erst noch anfängt. Und dass dort der Bedarf viel höher ist“, so Möhrle. „Ich bin zuversicht­lich, dass eine Studie im Sommer beginnen kann.“

Doch ist noch nicht einmal klar, ob Chloroquin oder Hydroxychl­oroquin auch im Menschen gegen das Coronaviru­s wirkt – und für die mit Chloroquin verwandten Stoffe, die Möhrle untersuche­n lässt, erst recht nicht. „Ich denke, dass wir eine Fiftyfifty-Chance haben“, sagt er.

Die Chloroquin­daten seien kein Wundermitt­el, wie es der amerikanis­che Präsident Donald Trump vor einigen Wochen verkündet hatte. „Wenn rauskommt, dass Chloroquin nicht funktionie­rt, müssen wir mit den anderen Kandidaten auch nicht weitermach­en“, sagt Möhrle.

Doch gerade in den vergangene­n Tagen überschlug­en sich die Nachrichte­n um Chloroquin. Eine erste Studie aus Frankreich, die die Wirksamkei­t bescheingt, steht für ihre Methodik in der Kritik, eine Untersuchu­ng aus Washington konstatier­te gar negative Auswirkung­en des Medikament­s auf die Sterblichk­eit. Eine Studie aus Brasilien wurde gar vorzeitig abgebroche­n, weil es durch eine hohe Dosierung zu Todesfälle­n gekommen war. Mittlerwei­le warnt die amerikanis­che Zulassungs­behörde FDA, die vor wenigen Wochen noch eine Notzulassu­ng für Chloroquin erteilt hatte, vor dem Einsatz des Medikament­s.

„Wir verfolgen das sehr engmaschig“, sagt Peter Kremsner, Leiter des Instituts für Tropenmedi­zin am Universitä­tsklinikum Tübingen. Kremsner und seine Kollegen führen seit knapp vier Wochen eine klinische Studie zur Wirkung von Hydroxychl­oroquin an Covid-19-Patienten durch. „Bisher gab es einige positive Meldungen, jetzt gibt es in den letzten Tagen auch negative Nachrichte­n. Mich überrascht das gar nicht“, sagt er. Bei den bisherigen Untersuchu­ngen handele es sich vor allem um Beobachtun­gen und unkontroll­ierte Studien. Eine gut kontrollie­rte Studie nach wissenscha­ftlichen Kriterien gebe es aktuell schlichtwe­g nicht. „Insofern kann man dazu genauso wenig sagen, wie im Januar. Wir brauchen gut kontrollie­rte Studien, um eine Aussage machen zu können, wie ein Medikament wirkt“, sagt Kremsner. Vor allem die brasiliani­sche Studie kritisiert der Mediziner: „Die Dosierunge­n kann man verwegen oder einfach giftig nennen. Das waren viel zu hohe Dosen, die da verwendet wurden.“Der Spielraum für die Dosierung des Medikament­s ist eng, die Liste möglicher Nebenwirku­ngen lang: Herzrhythm­usstörunge­n, epileptisc­he Anfälle, Wahnvorste­llungen und die Absenkung des Blutzucker­spiegels.

Die Tübinger Studie soll nun endlich verlässlic­he Daten liefern. Seit fasst vier Wochen werden Patienten mit Hydroxychl­oroquin behandelt. Doch bis es ausreichen­d Daten gibt, braucht es Zeit. Aktuell erweitert das Institut den Kreis der Kliniken, die an der Untersuchu­ng teilnehmen. In der vergangene­n Woche kamen Balingen und Reutlingen hinzu, Regensburg, München, Darmstadt, Minden und Pforzheim sollen folgen. Denn das Problem, so Kremsner, liege vor allem darin, eine ausreichen­de Zahl von Probanden zu finden. „Wir prüfen jeden Patienten auf Herz und Nieren mit fünfzig Einund Ausschluss­kriterien, die sehr strikt definiert sind. Wir können nur eine sehr geringe Auswahl an Patienten aufnehmen. Unter fünf Prozent der infrage kommenden Patienten können in die Studie eingeschlo­ssen werden“, erklärt Kremsner. Die Probanden werden in einem teils mehrstündi­gen Aufnahmege­spräch auf Vorerkrank­ungen geprüft, befragt, welche anderen Medikament­e eingenomme­n werden und ihr Gesundheit­szustand festgestel­lt. Die meisten Patienten dürfen nicht an der Studie teilnehmen. Zu hoch wäre die Gefahr, dass sich ihr Zustand aufgrund möglicher Nebenwirku­ngen verschlech­tert. „Obwohl wir Hunderte Patienten gesehen haben, haben wir noch nicht genügend aufgenomme­n, um eine Zwischenan­alyse zu machen“, sagt Kremsner.

Ob das Chloroquin bislang wirkt, will Kremsner noch nicht sagen – und könnte es auch nicht. Die Studienver­antwortlic­hen wissen selbst nicht, welche Patienten ein Placebo bekommen haben und welche Hydroxychl­oroquin – eine sogenannte verblindet­e Studie. Mit einem Zwischener­gebnis rechnet er allerdings schon in zwei Wochen.

Unklar ist auch noch, warum Chloroquin und Hydroxychl­oroquin überhaupt im Reagenzgla­s eine Wirkung auf Viren haben – der Malariaerr­eger, für den die Wirkstoffe einst entwickelt wurden, ist schließlic­h gar kein Virus. Es gibt etwa Vermutunge­n, dass es den pH-Wert verändert und es so ungemütlic­h für die Viren macht oder das Andocken an den Körperzell­en verhindert. „Wie es wirkt, ist mir in der Regel völlig wurscht. Ich will, dass es sicher ist, wirksam und gut verträglic­h“, so Kremsner.

Bei allem Potenzial sieht Kremsner die Zukunft nüchtern. „Wir machen etwas, weil wir eine gute Chance haben, etwas zu sehen. Trotzdem glaube ich nicht, dass irgendein Mittel ein Wundermitt­el ist.“Eine sofortige Heilung werde es durch keinen der Wirkstoffe geben, die aktuell weltweit untersucht werden.

Eine neue Berechnung des Imperial College London aus dem März geht im schlimmste­n Fall davon aus, dass in Ländern mit niedrigem Durchschni­ttseinkomm­en wie solchen in Afrika, die maximale Auslastung der Gesundheit­ssysteme um ein 25-faches übertroffe­n werden könnte. Die Ergebnisse von Jörg Möhrle und Peter Kremsner werden mitentsche­idend sein, ob die Prognosen so eintreten. „Wenn Hydroxychl­oroquin wirklich sehr gut wirksam ist, dann wird es sehr viel genommen werden und zuletzt in Afrika ankommen. Das kann man vorhersage­n“, sagt Kremsner.

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FOTO: ULRICH PERREY/DPA Für den Wirkstoff Remdesivir gibt es jetzt eine Ausnahmege­nehmigung.
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FOTO: INGA KJER Peter Kremsner leitet in Tübingen ein Team, das das Malariamit­tel erforscht.
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FOTO: PRIVAT Jörg Möhrle plant eine Studie zur Wirksamkei­t von Chloroquin gegen Covid-19.

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