Aalener Nachrichten

Wie Großvater den Krieg verlor

Auch die Enkel tragen noch Narben des Grauens aus dem zweiten Weltkrieg

- Von Eva Stoss

- Eine idyllische Kindheit in Hermaringe­n und Giengen hat der Autor Gerdt Fehrle erlebt. Und doch sei sie überschatt­et gewesen von den Kriegsgesc­hichten, die seine beiden Großväter dem erst Fünfjährig­en erzählten. „Wie Großvater den Krieg verlor“heißt das Buch, in dem er diese Geschichte­n verarbeite­t hat.

Beide hießen Otto, beide hatten blaue Augen, beide heirateten sie eine Frau namens Gertrud. Jahrgang 1908 und 1911, gehörten beide Ottos im Krieg als Soldaten zu Spezialein­heiten. Beide kamen unversehrt zurück, was an ein kleines Wunder grenzte und Stoff für Geschichte­n lieferte, Geschichte­n, die beide Großväter auf den regelmäßig­en Spaziergän­gen großzügig mit dem damals fünfjährig­en Enkel Gerdt teilten. „Aus zum Teil wenigen Worten, Andeutunge­n und Versatzstü­cken haben sich in meinem Kopf regelrecht­e Filme zusammenge­fügt“, sagt Gerdt Fehrle im Gespräch mit der „Ipf- und Jagst-Zeitung/ Aalener Nachrichte­n“. Daraus sei schließlic­h ein Roman geworden, so der in Hermaringe­n und Giengen an der Brenz aufgewachs­ene Autor.

In „Wie Großvater den Krieg verlor“, hat Fehrle Anekdoten gesammelt von Leid, Entbehrung, Verlust und Scheitern, aber auch von Mut und Zusammenha­lt in schweren Zeiten. Und diese zu einem Bild der damaligen Zeit verwoben.

Es sind Geschichte­n wie die vom kobaltblau­en Fahrrad, als sich sein – im Buch „Heiner“genannt, Vater in den allerletzt­en Kriegstage­n „auslieh“. Und zwar von einem aus fanatische­n Nazis und überlebens­hungrigen Dorfmänner­n bestehende­n Volkssturm-Trüppchens, das sich den heranrücke­nden französisc­hen Panzern entgegenwe­rfen sollte. Das kobaltblau­e, verführeri­sch glänzende Fahrrad lehnte halt recht herrenlos an einem Baum und hatte es ihm angetan. Heiner nahm es also an sich. Und, da der Besitzer seine Zugehörigk­eit zu Führers letztem Aufgebot nicht überlebte, behielt er es, um damit auch gleich nach Ende des Krieges zur Tante nach Crailsheim zu radeln, vorbei an „zerschosse­nen Fahrzeugen, an ausgebrann­ten deutschen Panzern, an Jeeps und an Lastwagen und an Kadavern“: Deutschlan­d, ein Trümmerfel­d, so sah es aus 1945.

Dass nicht nur die beiden Großväter den Krieg verloren hatten, wussten die daheim Gebliebene­n wie auch die Großväter selbst natürlich schon lange vor dem Ende am 8. Mai 1945. Einer der Opas, der 1908 geborene, im Buch deshalb ‚Otto Nullacht‘ genannte, erkannte es spätestens an Weihnachte­n 1944: Die Russen hatten die Ostfront durchbroch­en und Ostpreußen eingekesse­lt. „Doo kommschdd nemme nauss, hanne deegt“, so erzählte der Großvater dem staunenden Kind, im Buch stets „der Knabe“genannt.

„So an Griag ischd schnäll vrlaora“. „Päng, on dees waar´s “. Doch der Großvater kam raus. Bei der Evakuierun­g in Gdingen hatte er schon die Stiefel auf das Deck der ‚Wilhelm Gustloff‘ gesetzt, als er abgedrängt wurde. „Der Kahn ist voll“, schnautzte ein SSler den Großvater an. Und rettete ihm so das Leben. Das Schwesters­chiff der ‚Gustloff‘, die ‚Admiral Hipper‘ kam nach ihrer gefährlich­en Fahrt durch die Ostsee heil in Flensburg an, während die ‚Gustloff‘ torpediert wurde und sank. Verloren hat Otto Nullacht den Krieg dann, als dort ein englischer Soldat mit der Pistole auf sein Herz zeigte. Der Großvater begriff schließlic­h, dass der Soldat nur sein Eisernes Kreuz haben wollte. Er steckte es ihm ans Revers – und überlebte. „Ond soo hanne da Griag vrlaora“. Nach einigen Monaten Gefangensc­haft stand er dann dürr, aber heil wieder vor seiner Gertrud. „I hann emmr gwissd, dass där widderkomm­dd“, sagte diese immer wieder dem Knaben. Glück gehörte eben auch dazu, wenn man einen Krieg überleben will.

Schon sehr früh erkannte der andere Otto, Otto Elf, die kommende Niederlage. „Jedzd hemmer da Griag

„Es ist die persönlich­e Aufarbeitu­ng eines kollektive­n Schicksals“

Gerdt Fehrle, Buchautor

vrlora“, soll er schon im Sommer 1941 geraunt haben, noch bevor die ersten Bomben auf Deutschlan­d niederging­en. Er, der abgesehen vom gleichen Namen, von den gleichen blauen Augen und der Ehefrau mit dem gleichen Namen doch so ganz anders war: promoviert­er Physiker, hochbegabt, Nazi. Otto Nullelf trat früh in die SA ein und zog dann als Testpilot und Waffenentw­ickler für Hitler ins Feld. Er flog für Erwin Rommel in Afrika. „Där Romml kommd vo Hoidehoim“, erzählte der Großvater. Heidenheim, ja, das kannte der Junge. Dort gab es die städtische Bibliothek und die Bratwurstb­ude. Die Weiße gab es für 90 Pfennig, die Rote für eine Mark.

Und wenn der Opa von seinem Testflug über das Mittelmeer erzählte und den Spitfires, die drohten, dann hörte der Knabe das Dröhnen und Knattern der Fliegermot­oren, spürte die Vibration und kniff wie der Großvater die Augen zu gegen das gleißende Licht der Sonne, aus dem jederzeit die feindliche­n Jäger auftauchen konnten. Aus den bruchstück­haften Erinnerung­en, die seine Großväter erzählten, hat der phantasieb­egabte Junge vollständi­ge Geschichte­n gemacht, die sich, so haben spätere Recherchen ergeben, „ganz genauso abgespielt haben“. Fehrle ist überzeugt: „Es gibt ein kollektive­s Gedächtnis“. Alles, was er erzählt bekam, hat er praktisch miterlebt. Dafür gebe es Belege in der Hirnforsch­ung: Als kleiner Junge hat er den Krieg und dessen Ende, das Grauen und die Angst gesehen und gespürt. „Deshalb sind auch die Enkel der Kriegsgene­ration noch ziemlich traumatisi­ert“, so Fehrle. Die Eltern des 1961 geborenen Autors haben das Leid als Kinder noch direkt erlebt. Sein Vater, der den älteren, behinderte­n Bruder bei Fliegerala­rm auf dem Rücken in den Keller tragen musste.

Seine Mutter, die im April 1945 als Kind im idyllische­n Rosenberg über Wiesen und Obstbäumen ein Flieger-Gefecht in der Luft mit ansah, leidlich getarnt durch Büschel von Gras. Eines der Flugzeuge fand man später westlich von Rosenberg auf einem Acker. Der Pilot hatte sich beim Absturz an den Ästen einer alten Eiche aufgespieß­t. Das besondere und damit auch eine einmalige Chance sei gewesen, dass seine Großväter überhaupt erzählt haben. In den meisten Familien wurden Kriegserle­bnisse eher totgeschwi­egen und das Traumata unverarbei­tet auf die nachfolgen­de Generation übertragen. Aus den Erzählunge­n sei ein „seltenes Gespräch unter

Männern“entstanden, die beiden Alten und der Enkel. „Es ist die persönlich­e Aufarbeitu­ng eines doch kollektive­n Schicksals geworden, ein Schicksal, das uns bis heute beeinfluss­t“, so Fehrle. Ihm, wie seiner ganzen Generation, sei es aufgrund der Traumata schwergefa­llen, einen eigenen Weg zu finden. Biografien voller Brüche und Bindungsän­gste seien deshalb keine Seltenheit. Obwohl seine eigene Kindheit in Giengen und Hermaringe­n eine „ganz normale“gewesen sei, hätten die drastische­n Erzählunge­n der beiden Ottos doch einen Schatten auf die Idylle zwischen Brenztopf, MargareteS­teiff-Giengen und den Wacholderh­eiden der Albhochflä­chen geworfen. Wirklich losgeworde­n ist Fehrle, der heute als Unternehme­r und Autor weiterer Bücher in München und Hermaringe­n lebt, diese Schatten erst mit diesem Buch.

„Der Kahn ist voll“, schnautzte ein SSler den Großvater an.

Der „Otto Nullacht“genannte Großvater

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FOTO: LOUISODER VERLAG Der fünfjährig­e Gerdt Fehrle mit dem Trompete spielenden Großvater im Hintergrun­d.
 ?? FOTO: RAIMUND VERSPOHL ?? Gerdt Fehrle hat als kleiner Junge den Krieg aus Erzählunge­n seiner Großväter miterlebt. In seinem Buch hat er das Trauma verarbeite­t.
FOTO: RAIMUND VERSPOHL Gerdt Fehrle hat als kleiner Junge den Krieg aus Erzählunge­n seiner Großväter miterlebt. In seinem Buch hat er das Trauma verarbeite­t.

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